Liebe B.,
Schlichtheit
[...] Dabei geht es mir nicht, um das ausdrücklich zu betonen, um so etwas wie Spiritualität oder Esoterik. Ich habe kein Interesse an irgendwelchen spirituellen Erfahrungen oder gar Erleuchtung. Eher könnte man sagen, ich suche den Kern der Wirklichkeit (eine Formulierung, die mir gerade eben ganz spontan eingefallen ist und die mich ziemlich begeistert, trotz ihrer ganz offensichtlichen Überspanntheit! :-)). Das ist das Tolle am Zen, dass es ohne spirituelles Brimborium auskommt (das gibt es wohl auch, aber darum muss man sich nicht kümmern). Und trotzdem hat es eine große gedankliche Tiefe, wenn man danach sucht (aber auch das muss man nicht). Zen ist schlicht, karg und praxisorientiert – genau das Richtige für so eine prosaische Person wie mich. :-)
Ich hatte befürchtet, dass das Thema für dich wenig anschlussfähig sein könnte und ich mich hier über Gebühr in einem Monolog ausbreite, in der redseligen Begeisterung für ein neues Steckenpferd. :-) Es hat also nichts damit zu tun, dass ich das Gefühl hatte, ein empfindliches Thema breitzutreten. Ich weiß, was du damit meinst, aber ich glaube, da besteht keine Gefahr, zumindest nicht an diesem Ort (bei einem Sesshin ist das natürlich was anderes). Das, worüber man reden kann, ist nicht das „Eigentliche“. Oder andersherum: Das „Eigentliche“ ist ein Bereich, der mit Worten nicht erfassbar ist, insofern besteht auch keine Gefahr es zu zerreden. (Frag mich jetzt aber nicht, was ich mit dem „Eigentlichen“ meine! :-) Es ist ein leerer Stellvertreterbegriff – aber wofür? Vielleicht am besten einfach genau dafür – für die Leere.) Wenn du das Thema also fortsetzen möchtest – gern!
Zum einen interessiert es mich, weil es Dich interessiert. Das ist für mich normal ... oder ist es für alle Menschen normal? Ich weiß es nicht, stelle ich fest.
Aber es ist auch noch etwas Anderes, wenn ich mir überlege, warum ich mich gerne auf Dein „Steckenpferd“ einlasse. Es hat genau mit dem zu tun, woran Du kein Interesse hast. Dem spirituellen/esoterischen Aspekt des ZaZen –zumindest derzeit – nämlich nicht nachzugehen, d.h. der Vernachlässigung der gedanklich-theoretischen Konzeption zum Verständnis des Weltganzen. Den „Kern der Wirklichkeit“ suchen, wovon ich selbstverständlich auch nicht weiß, was das nun näherhin bedeuten könnte, heißt für mich, ZaZen inhaltslos zu betrachten. Falls inhaltlos „leer“ meint und ich für „leer“ auch „alles“ einsetzen kann. Es bleibt alles, wie es ist, das Alltagsleben, ich darin, ich muß nichts anderes darüber denken oder darin tun, was ich nicht ohnehin tue – ich komme mir nicht bedrängt vor. Hm, ich glaube, am allermeisten gefällt mir die Art und Weise, in der Du über das „Sitzen sprichst“. „Schlicht“, „karg“, in einfachen Worten und Sätzen, nüchtern, ja, „nüchtern“ ist ein guter Ausdruck dafür. Mir wird kein Staunen, keine Bewunderung abverlangt über großartige spirituelle „Highlights“, über Fortschritte, über eine Welttheorie. Diese Beurteilung geschieht auch vor dem Hintergrund, daß ich in meinem Leben einige Menschen kennengelernt habe, die die Meditation bzw. ihre Erfahrungen zur Selbstdarstellung und Selbststilisierung u.a. benutzt haben ... was mich nicht angezogen hat.
Rollenspiele
Ein Beispiel: Ich will einen öffentlichen Beitrag zu einem Thema schreiben, bei dem ich mir allerdings noch etwas unsicher bin. Ich gebe mir immer noch Mühe mich möglichst präzise auszudrücken, aber ich sichere mich nicht mehr nach allen Richtungen ab, schreibe sozusagen nicht mehr im Konjunktiv, nur weil ich einen Gedankengang noch nicht ganz zu Ende gedacht habe (wann hätte man das je …?) Ich schreibe entschiedener, selbstsicherer. Das fühlt sich noch nicht ganz vertraut an, aber ich spiele das erst einmal einfach. Und siehe da: Ich wachse hinein in diese neue Rolle, mache sie mir zu eigen, sie ist immer weniger nur gespielt, nur äußerlich. Das ist ein interessantes Gefühl (ob andere Leute den Unterschied überhaupt bemerken – ich bezweifle es). Und dabei wird mir bewusst, dass auch mein altes Verhalten – das zögerliche, vorsichtige, unsichere – zu einem guten Teil daraus resultierte, dass ich ein bestimmtes Verhalten immer und immer wieder wiederholt habe (eine Rolle gespielt habe), bis ich es für mein eigentliches Wesen gehalten habe.
Daraus ergibt sich natürlich die Frage: Ja, und was bist du nun wirklich? Die erste Rolle? Die zweite? Keine von beiden? Was dann? Aber ich merke, wie diese Fragen immer unwichtiger werden. Ich muss mich da nicht festlegen, ich muss es nicht einmal selbst wissen. Ich bin jetzt so, wie es sich jetzt gerade ergibt. Das heißt nicht, dass ich mich nun völlig willkürlich und ständig wechselnd verhalte; mein Verhalten jetzt und jetzt und jetzt bildet bestimmt ein ganz spezifisches Muster. Aber ich muss mich nicht mehr darum kümmern. Ich muss keinem bestimmten Bild mehr entsprechen, weder einem von außen noch einem viel tiefer verwurzelten, über Jahrzehnte gewachsenen, aber gar nicht immer als angenehm empfundenen inneren Bild. Ich fühle mich freier. Das alles ist noch mehr schöne Theorie als gelebte Praxis. Aber es fühlt sich schon jetzt gut an. :-)
Mit dem Ausdruck „Rollenspiel“ hatte ich Schwierigkeiten; nun, in Verbindung mit dem „Bild“ und Deinem „Verhaltens“beispiel ist mir klarer geworden, was Du meinst. Einzelne Verhaltensweisen fügen sich zu einem Bild zusammen, das man als Typos („scheuer“ oder „selbstsicherer“ Mensch) bezeichnen könnte. Mir scheint nun aber entscheidend gar nicht die „Rolle“ oder wie immer man es noch nennen könnte, sondern das „Spiel“ als Teil des zusammengesetzten Wortes. Auf dem „Spiel“ sehe ich die Betonung liegen. Eine Rolle spielen bedeutet, so „tun als ob“. Voraussetzung dafür ist nicht nur, gedanklich überhaupt eine andere Möglichkeit des Verhaltens oder des Handelns in den Blick nehmen zu können, sondern mehr noch, sich anders verhalten zu können. Das „Spiel“ bietet die Möglichkeit, sich nicht mit einer neuen Verhaltensweise identifizieren zu müssen, weil man lediglich für einen bestimmten Zeitraum und eine bestimmte Situation ein neues „Kleid“ anlegt, das man jederzeit auch wieder ablegen darf. Ob es einem gefällt oder nicht, hängt sicher davon ab, wie angenehm man sich in der neuen Rolle fühlt und auch an den Antworten, die man von anderen Menschen bekommt. Sehr zutreffend finde ich Deine Beobachtung der Verstärkung. Die Wiederholung bekräftigt das Wiederholte und immer so fort und auf diese Weise vertieft man selbst permanent das, wovon man glaubt, man sei es und man könne sich nicht anders verhalten. Je häufiger man „so tut, als ob“, desto mehr wird das Kleid zur Haut. Meine Beschreibung passt nicht recht mit der „Bewegung“, die Du unten nennst und auch nicht mit dem „keinem bestimmtem Bild“ mehr entsprechen zu müssen überein, ich sehe das, und möchte trotzdem meine Überlegungen so stehen lassen.
„Ich“ mit Fragezeichen
Ich glaube aber nicht, dass es die Meditation ist, die diese Entwicklung ausgelöst hat. Sie hat sie vielleicht verstärkt; aber der Auslöser war das Montaigne-Zitat von den buntscheckigen Fetzen. Selten hat ein Zitat solch eine Wirkung auf mich gehabt wie dieses, meistens vergesse ich sie nach kurzer Zeit wieder.* Ich setze es noch einmal hierher:
Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.
(Montaigne, Die Essais. Zweites Buch, Erstes Kapitel „Die Unbeständigkeit unseres Handelns“)
Aber wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, besteht vielleicht doch eine Verbindung zur Meditation. Im Zen oder im Buddhismus allgemein geht man von der Substanzlosigkeit dessen aus, was wir Ich nennen. Das soll nicht heißen, dass es dieses Ich nicht gibt. Aber in diesem Konzept hat es einen ganz anderen Charakter als beispielsweise in der westlichen philosophischen Tradition. Es ist etwas, das nur in Abhängigkeit von allem anderen entsteht und existiert, etwas, das durch anderes bedingt ist, wie es seinerseits anderes bedingt. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, dabei kann nur Unsinn herauskommen, ich weiß einfach zu wenig vom Buddhismus. Aber mir scheint, dass auch das Montaignesche Ich eines ohne festen Kern ist, wenn auch auf andere Art. Erst dachte ich, man könne es als Mosaik beschreiben, als etwas Zusammengesetztes. Aber ich glaube, das trifft es überhaupt nicht. Bei einem Mosaik entsteht am Ende ein fertiges Bild, während bei Montaigne alles in Bewegung bleibt („flattert“). Es ist eher ein Kaleidoskop, das sich immer weiterdreht und bei jeder Umdrehung in ein neues schönes Bild fällt. Die Anzahl der bunten Steine im Kaleidoskop ist begrenzt, aber die Möglichkeiten der Muster sind unendlich. (Keine Ahnung, ob das mathematisch so stimmt, aber darauf kommt es mir jetzt auch nicht an.) Ein schönes Bild, um hier zum Ende zu kommen. :-)
Mich fasziniert die Geschichte um das, was wir „Ich“ nennen und mir fällt spontan Kant ein, den ich zitiere: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein“ („Kritik der reinen Vernunft“, §16). Ich glaube, mir fällt dieser Satz deswegen ein, weil das „Ich“, wie Kant es hier umschreibt, nämlich in seiner Funktion, auf jeden Fall auch substanzlos gedacht ist. Kants Umschreibung erinnert mich daran, wie das „Ich“ in der sprachanalytischen Philosophie erfasst wird, es dient als Hinweiszeichen auf meine Person. Mit „ich“ referiert man –für Andere- auf die eigene Person. Mehr ist es nicht. Das „Ich“ wird zum kleingeschriebenen „ich“. In dem zitierten Satz wird das „Selbstbewusstsein“ der Person angesprochen, ein ebenso schillerndes Wort wie „Ich“; die Notwendigkeit (sofern wir beim verstandesmäßigen Denken bleiben) daß einzelne Gedanken durch „etwas“, daß sie auf sich bezieht und zusammendenkt, vorhanden sein muß. Im Unterschied zu Montaigne liegt der Beschreibung von Kants „Ich“ keine Substanzvorstellung zugrunde, denn Montaigne möchte ich nun doch so verstehen, daß es sich bei seinem „Ich“ um Eigenschaften handelt, die ich anstelle des Begriffs der Substanz setze. Das, was Du als „Steine“ bezeichnest. Nein, das scheint mir doch nicht richtig zu erfassen, was Du geschrieben hast. Die Eigenschaften sind wie Steine, aus deren jeweiliger Zusammensetzung das „Ich“ hervorgeht. Wenn ich das Bild des Kaleidoskops heranziehe, dann löst sich das „Ich“ in dem „Moment“, da es entsteht, allerdings bereits wieder auf. So wie „Ich“ und „Nicht-Ich“. Ich ende hier. Wir tasten uns voran. :-)))
F.
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