Brief 112 | Kaleidoskop

Liebe F.,

Zen und kein Ende :-)

Über diesem ersten Abschnitt Deines Briefes habe ich lange gesessen und immer wieder überlegt, was Du wohl meinen könntest, bis mir endlich klar wurde, daß Du Dich wahrscheinlich auf Dein anfängliches Erstaunen beziehst, Dein Leben gehe so weiter wie zuvor, vor dem Tod Deines Mannes, nur eben ohne Deinen Mann, alleine, und es gäbe so gar nichts deutlich Erkennbares, das den Einschnitt sichtbar und auch unsichtbar zum Ausdruck brächte. Ein sichtbares Zeichen wäre zum Beispiel der Umzug in ein Kloster gewesen. Das Durchdringen in Deine Gefühlswelt würde ich nun mit Deinen Erfahrungen im Rahmen des Meditierens in Verbindung bringen. Es ist weniger eine Veränderung in Deinen Lebensumständen als vielmehr eine Veränderung im Innern. S o fühle ich mich jetzt („Lebensgefühl“ trifft an dieser Stelle wohl eher nicht zu). Vielleicht ganz allgemein formuliert: „Jetzt fühle ich mich tatsächlich anders“ – anders als in den Monaten und Jahren, in denen Du fast enttäuscht warst über die –scheinbare, so müßte man rückblickend, jetzt wohl richtigerweise sagen- Folgenlosigkeit.

Hm … da hast du anscheinend ziemlich den Faden verloren. :-) Es ging doch um die Nulllinie. Ich war also ziemlich erstaunt darüber, dass es mich so wenig berührte, dass ich knapp dem Tode entronnen war. Ich hatte gedacht, dass einen das irgendwie verändern müsste. Das erinnert mich an eine Kollegin, der ein Hirntumor entfernt worden war, und anschließend war sie immer noch genau so anstrengend wie vorher. Wir hatten erwartet, sie wäre demütiger oder abgeklärter geworden oder so etwas Ähnliches. Du hattest ja auch mal davon geschrieben, dass du gehofft hattest, nach dem Tod deines Mannes würde so etwas wie eine große Transformation bei dir stattfinden. Aber es ist schon was dran an dem Satz, dass fast jeder nach einer großen Erschütterung relativ schnell wieder in seinen seelischen Normalzustand zurückkehrt.

Meinen seelischen Normalzustand habe ich längst wiedergefunden bzw. eigentlich gar nicht verloren. Aber dieses Erlebnis im Krankenhaus hat doch mittlerweile deutlich spürbare Nachwirkungen. Es hat mich nicht verändert – ich bin immer noch eher fröhlich, positiv eingestellt, glücklich. Aber meine Schwerpunkte haben sich verschoben – so könnte man es vielleicht ausdrücken. Meine immer intensiver werdenden Meditationsbemühungen sind dafür das am deutlichsten sichtbare Zeichen. Ich hatte ja schon im Sommer zuvor mit dem ernsthafteren Meditieren begonnen. Aber seit ich mich von dieser Herzgeschichte einigermaßen wieder erholt habe, ist das noch mal um einiges intensiver geworden. Dabei geht es mir nicht, um das ausdrücklich zu betonen, um so etwas wie Spiritualität oder Esoterik. Ich habe kein Interesse an irgendwelchen spirituellen Erfahrungen oder gar Erleuchtung. Eher könnte man sagen, ich suche den Kern der Wirklichkeit (eine Formulierung, die mir gerade eben ganz spontan eingefallen ist und die mich ziemlich begeistert, trotz ihrer ganz offensichtlichen Überspanntheit! :-)). Das ist das Tolle am Zen, dass es ohne spirituelles Brimborium auskommt (das gibt es wohl auch, aber darum muss man sich nicht kümmern). Und trotzdem hat es eine große gedankliche Tiefe, wenn man danach sucht (aber auch das muss man nicht). Zen ist schlicht, karg und praxisorientiert – genau das Richtige für so eine prosaische Person wie mich. :-)

Das reine Präsens als Form? Jedenfalls scheint es mir wie eine Erlaubnis für Dich, das sowieso schon in Dir selber Angelegte noch weiter zu treiben, es zu vervollkommnen. Nachdem ich dies geschrieben habe, glaube ich zu verstehen, warum Du es „Paradies“ nennst.

Danke! Du hast wunderbar in wenige präzise Worte gefasst, was in meinem Kopf noch etwas wirr und unklar war.

Ein paar Tage später: Ich bin dir immer dankbarer für diese Formulierung. Mit ihrer Hilfe verstehe ich so vieles besser! Das ohnehin schon in mir Angelegte – deshalb fühlt es sich wie Heimkommen an. Fast alles, was bisher Lebensmittelpunkt für mich gewesen ist, ist von mir abgefallen – die Kinder (aus dem Haus), der Ehemann (gestorben), die Arbeit (die Rente steht kurz bevor). Nun kehre ich zurück zu dem, was ich auch bin, was aber in den vergangenen Jahrzehnten nur eine untergeordnete Rolle spielte. Und ich komme dahin zurück in einem Rahmen, in dem ich genau das weiter treiben kann (vervollkommnen ist mir etwas zu hoch gegriffen).

„Schade“ ist meine erste Reaktion auf Deinen Wunsch wieder wegzukommen von der Meditation. Gleich anschließend ist mir das Schweigen, in denen Za-Zen-Sesshins stattfinden, in den Sinn gekommen. Das Schweigen hat ganz sicher diverse Gründe, aber einer der Gründe, so scheint mir, ist der, die eigenen Erfahrungen nicht breitzutreten. Weniger in die Tiefe gehen, sondern wörtlich ein Breittreten. Man spricht und zerredet, verredet, was möglicherweise gerade angefangen hat wie ein Samen im Inneren zu keimen (das Bild fließt mir vom Kopf in die Tasten und deswegen lasse ich es so).

Ich hatte befürchtet, dass das Thema für dich wenig anschlussfähig sein könnte und ich mich hier über Gebühr in einem Monolog ausbreite, in der redseligen Begeisterung für ein neues Steckenpferd. :-) Es hat also nichts damit zu tun, dass ich das Gefühl hatte, ein empfindliches Thema breitzutreten. Ich weiß, was du damit meinst, aber ich glaube, da besteht keine Gefahr, zumindest nicht an diesem Ort (bei einem Sesshin ist das natürlich was anderes). Das, worüber man reden kann, ist nicht das „Eigentliche“. Oder andersherum: Das „Eigentliche“ ist ein Bereich, der mit Worten nicht erfassbar ist, insofern besteht auch keine Gefahr es zu zerreden. (Frag mich jetzt aber nicht, was ich mit dem „Eigentlichen“ meine! :-) Es ist ein leerer Stellvertreterbegriff – aber wofür? Vielleicht am besten einfach genau dafür – für die Leere.) Wenn du das Thema also fortsetzen möchtest – gern!



Rollenspiele

Wahrscheinlich sind die „Rollenspiele“, von denen ich ahne, was Du mit dem Wort meinst, ein Schauplatz, auf dem sich Veränderungen, die mit dem „Ich“ verknüpft sind, als Ergebnis des „Sitzens“ zeigen.

Ein Beispiel: Ich will einen öffentlichen Beitrag zu einem Thema schreiben, bei dem ich mir allerdings noch etwas unsicher bin. Ich gebe mir immer noch Mühe mich möglichst präzise auszudrücken, aber ich sichere mich nicht mehr nach allen Richtungen ab, schreibe sozusagen nicht mehr im Konjunktiv, nur weil ich einen Gedankengang noch nicht ganz zu Ende gedacht habe (wann hätte man das je …?) Ich schreibe entschiedener, selbstsicherer. Das fühlt sich noch nicht ganz vertraut an, aber ich spiele das erst einmal einfach. Und siehe da: Ich wachse hinein in diese neue Rolle, mache sie mir zu eigen, sie ist immer weniger nur gespielt, nur äußerlich. Das ist ein interessantes Gefühl (ob andere Leute den Unterschied überhaupt bemerken – ich bezweifle es). Und dabei wird mir bewusst, dass auch mein altes Verhalten – das zögerliche, vorsichtige, unsichere – zu einem guten Teil daraus resultierte, dass ich ein bestimmtes Verhalten immer und immer wieder wiederholt habe (eine Rolle gespielt habe), bis ich es für mein eigentliches Wesen gehalten habe.

Daraus ergibt sich natürlich die Frage: Ja, und was bist du nun wirklich? Die erste Rolle? Die zweite? Keine von beiden? Was dann? Aber ich merke, wie diese Fragen immer unwichtiger werden. Ich muss mich da nicht festlegen, ich muss es nicht einmal selbst wissen. Ich bin jetzt so, wie es sichjetzt gerade ergibt. Das heißt nicht, dass ich mich nun völlig willkürlich und ständig wechselnd verhalte; mein Verhalten jetzt und jetzt und jetzt bildet bestimmt ein ganz spezifisches Muster. Aber ich muss mich nicht mehr darum kümmern. Ich muss keinem bestimmten Bild mehr entsprechen, weder einem von außen noch einem viel tiefer verwurzelten, über Jahrzehnte gewachsenen, aber gar nicht immer als angenehm empfundenen inneren Bild. Ich fühle mich freier.

Das alles ist noch mehr schöne Theorie als gelebte Praxis. Aber es fühlt sich schon jetzt gut an. :-)

Ich glaube aber nicht, dass es die Meditation ist, die diese Entwicklung ausgelöst hat. Sie hat sie vielleicht verstärkt; aber der Auslöser war das Montaigne-Zitat von den buntscheckigen Fetzen. Selten hat ein Zitat solch eine Wirkung auf mich gehabt wie dieses, meistens vergesse ich sie nach kurzer Zeit wieder.* Ich setze es noch einmal hierher:

Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.

(Montaigne, Die Essais. Zweites Buch, Erstes Kapitel „Die Unbeständigkeit unseres Handelns“)

Aber wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, besteht vielleicht doch eine Verbindung zur Meditation. Im Zen oder im Buddhismus allgemein geht man von der Substanzlosigkeit dessen aus, was wir Ich nennen. Das soll nicht heißen, dass es dieses Ich nicht gibt. Aber in diesem Konzept hat es einen ganz anderen Charakter als beispielsweise in der westlichen philosophischen Tradition. Es ist etwas, das nur in Abhängigkeit von allem anderen entsteht und existiert, etwas, das durch anderes bedingt ist, wie es seinerseits anderes bedingt. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, dabei kann nur Unsinn herauskommen, ich weiß einfach zu wenig vom Buddhismus. Aber mir scheint, dass auch das Montaignesche Ich eines ohne festen Kern ist, wenn auch auf andere Art. Erst dachte ich, man könne es als Mosaik beschreiben, als etwas Zusammengesetztes. Aber ich glaube, das trifft es überhaupt nicht. Bei einem Mosaik entsteht am Ende ein fertiges Bild, während bei Montaigne alles in Bewegung bleibt („flattert“). Es ist eher ein Kaleidoskop, das sich immer weiterdreht und bei jeder Umdrehung in ein neues schönes Bild fällt. Die Anzahl der bunten Steine im Kaleidoskop ist begrenzt, aber die Möglichkeiten der Muster sind unendlich. (Keine Ahnung, ob das mathematisch so stimmt, aber darauf kommt es mir jetzt auch nicht an.) Ein schönes Bild, um hier zum Ende zu kommen. :-)

B.

 

* Das einzige Zitat, das so wichtig für mich ist, das es mir jetzt spontan einfällt, stammt von Hegel und lautet: „Alles ist Moment.“ Auch das geht, wie ich jetzt merke, in eine ähnliche Richtung. Alles ist in Bewegung und existiert aus der gegenseitigen Bedingtheit heraus. Anscheinend hat mich eine bewegte, nicht statische Sichtweise schon lange angezogen, das war mir noch gar nicht so bewusst gewesen. Sagt man nicht, Dialektik sei Denken in Bewegung? Auch Zen ist dialektisch, wenn auch auf eine sehr spezielle, paradoxe Art. Aber das ist noch Neuland für mich und führt jetzt auch zu weit.

Quelle: pixabay

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