Brief 111 | Stückwerk

Liebe B.,

[...] Im weiteren Verlauf fand ich es dann eigenartig, wie lange es gedauert hat, bis dieses Erlebnis in meine Gefühlswelt durchgedrungen ist. Und ich bin froh darüber, dass das jetzt anscheinend endlich soweit ist, dass es sich also nicht in mir verkapselt oder abgespalten hat. So kann ich doch wenigstens so etwas wie einen „Gewinn“ daraus ziehen. Ich hatte es schon fast schade gefunden, dass dieses Ereignis so wenig Folgen hatte – eine vertane Erfahrung. Aber anscheinend ist sie doch nicht so ganz vertan.

Über diesem ersten Abschnitt Deines Briefes habe ich lange gesessen und immer wieder überlegt, was Du wohl meinen könntest, bis mir endlich klar wurde, daß Du Dich wahrscheinlich auf Dein anfängliches Erstaunen beziehst, Dein Leben gehe so weiter wie zuvor, vor dem Tod Deines Mannes, nur eben ohne Deinen Mann, alleine, und es gäbe so gar nichts deutlich Erkennbares, das den Einschnitt sichtbar und auch unsichtbar zum Ausdruck brächte. Ein sichtbares Zeichen wäre zum Beispiel der Umzug in ein Kloster gewesen. Das Durchdringen in Deine Gefühlswelt würde ich nun mit Deinen Erfahrungen im Rahmen des Meditierens in Verbindung bringen. Es ist weniger eine Veränderung in Deinen Lebensumständen als vielmehr eine Veränderung im Innern. S o fühle ich mich jetzt („Lebensgefühl“ trifft an dieser Stelle wohl eher nicht zu). Vielleicht ganz allgemein formuliert: „Jetzt fühle ich mich tatsächlich anders“ – anders als in den Monaten und Jahren, in denen Du fast enttäuscht warst über die –scheinbare, so müßte man rückblickend, jetzt wohl richtigerweise sagen- Folgenlosigkeit.

Zazen

Die Zeit messe ich mit einer App („Insight Timer“). Dort gibt es zahlreiche geführte Meditationen, aber die interessieren mich nicht. Ich benutze nur den Gong. Man kann zwischen verschiedenen Klängen wählen und die Dauer der Meditation festlegen. Ich finde es sehr schön, diesen Gong am Anfang und am Ende zu hören. Aber der größte Vorteil ist, dass ich nicht dauernd auf eine Uhr schielen muss.

Ja, ich hatte mich daran erinnert, daß ich mir damals Ende der siebziger Jahre (des vorigen Jahrhunderts) eine Klangschale gekauft hatte (ich weiß nicht, ob die Originale als „Klangschale“ bezeichnet werden, jedenfalls eine Schale mit einem dazugehörigen Klöppel), sodaß ich das Ende der Sitzung mit einem schönen Gongschlag abschließen konnte. Nur stand die Schale neben mir, und zuvor musste ich, um die Zeit zu wissen, immer auf die Uhr auf dem Schrank blicken. Die neue Technologie ermöglicht natürlich elegantere Abschlüsse.    

Ich liebe aber auch die rein äußerliche Form, die mich schon an Buddhastatuen immer fasziniert hat, die also nicht spezifisch für Zazen ist: Dieses Sitzen mit verschränkten Beinen, geradem Rücken, aufeinandergelegten Händen, halb geschlossenen Augen, eine Position, die gleichzeitig in sich geschlossen und offen ist und eine tiefe Ruhe ausstrahlt. Wenn ich diese Haltung annehme (Form), dann habe ich oft das Gefühl, einfach nur dadurch, ohne irgendwelches weiteres Zutun, kurzzeitig in diese Ruhe einzusinken (Inhalt – oder Leere?).

Bei meinen erinnernden Gedanken hatte ich immer die Hände vergessen. Ich weiß nicht, warum. Zum geraden Rücken gehört aber auch die spezielle Kopf- und Nackenhaltung, mit der ich Mühe hatte oder anders gesagt, an die ich mich während des Sitzens sehr häufig erinnern musste. Rücken, Hals und Kopf sollen eine gerade Linie bilden, der Kopf und das Kinn sollen also nicht vorgeschoben werden, und mir ist damals überhaupt erst aufgefallen, daß ich den Kopf und das Kinn nicht in einer geraden Linie halte.

***

Während meines ersten Lesens Deines Briefes hatte ich einen Geistesblitz, in dem ich vollkommen klar die Verknüpfung zwischen „Ich“ – Präsens - „ist“ erkennen konnte. Kurz danach ist mir diese Erkenntnis wieder entglitten, und ich habe den Faden nicht wiederfinden können (ein neuerlicher Geistesblitz blieb aus). Was ich nun schreibe, ist Stückwerk -      

Das ist nun wiederum eine Welt, die mir fremd ist. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob es sich hierbei tatsächlich um das handelt, was ich unter „Form ist Inhalt, Inhalt ist Form“ verstehe. Mir scheint das eher eine Symbolhandlung zu sein. Das heißt, die Form weist über sich hinaus, sie be-deutet etwas, wie du schreibst, sie deutet auf etwas anderes, darüber Hinausgehendes, etwas Jenseitiges. Während so, wie ich den Satz verstehe, das IST in „Form ist Inhalt“ wirklich wörtlich zu verstehen ist. Sie sind identisch, es gibt nichts darüber Hinausgehendes. Meditation im Buddhismus gilt ja, soweit ich mir das angelesen habe, meist als Weg auf ein Ziel hin, nämlich die Erleuchtung oder das Nirvana. Während es im Zen heißt: Wenn du dich aufs Kissen setzt, bist du schon Buddha. Das Hinsetzen IST das Buddhasein. Es gibt nichts darüber hinaus. Das mag man jetzt etwas zu simpel finden, und mit der ganzen Buddha-Metaphorologie kann ich ohnehin nicht so viel anfangen. Aber für mich, die sich so wenig in Vergangenheit und Zukunft bewegt, ist es wie das Paradies. Reines Präsens. Nicht als Defizit, sondern als angestrebter Zustand.

Ja, Du hast erfasst, was i c h gemeint hatte: die symbolische Handlung. Die Form, die stellvertretend für etwas anderes als sich selbst steht.

Das reine Präsens als Form? Jedenfalls scheint es mir wie eine Erlaubnis für Dich, das sowieso schon in Dir selber Angelegte noch weiter zu treiben, es zu vervollkommnen. Nachdem ich dies geschrieben habe, glaube ich zu verstehen, warum Du es „Paradies“ nennst. In diesen beiden Sätzen sind jetzt, glaube ich, beide Aspekte enthalten, die Du in Deinem vorhergehenden Brief erwähnt hattest:

Und was lässt mich dabeibleiben? Zunächst einmal eine eher oberflächliche, nichtsdestotrotz wesentliche Antwort („Form ist Inhalt, Inhalt ist Form“): Weil es unglaublich schön ist.[...]

Eine eher inhaltliche Antwort ist: Ich suche weiterhin nach mir selbst, aber gleichzeitig möchte ich dieses Ich loslassen („Form ist Leere, Leere ist Form“). Diese Gleichzeitigkeit dabei fasziniert mich. Ich habe das Gefühl, dass ich mit jedem Schritt, den ich weiter in mich hineingehe, gleichzeitig einen Schritt aus mir herausmache. Es ist sehr schwierig zu beschreiben, was wohl daran liegt, dass es mir auch noch ziemlich unklar ist. Aber das macht nichts, es ist schön, dass ich, um das besser zu verstehen, noch einen Weg vor mir habe.

Mit vervollkommnen meine ich das reine Präsens, das aus meiner Sicht mit dem „Ich“ verbunden ist. Dazu im Folgenden.    

So, nun hatte ich, um wieder ein bisschen wegzukommen vom Thema Meditation, etwas über Rollenspiele schreiben wollen, weil sich da in letzter Zeit einiges verändert hat bei mir. Aber da dieser Brief jetzt ohnehin schon viel zu lang ist, verschiebe ich das auf einen späteren Zeitpunkt.

„Schade“ ist meine erste Reaktion auf Deinen Wunsch wieder wegzukommen von der Meditation. Gleich anschließend ist mir das Schweigen, in denen Za-Zen-Sesshins stattfinden, in den Sinn gekommen. Das Schweigen hat ganz sicher diverse Gründe, aber einer der Gründe, so scheint mir, ist der, die eigenen Erfahrungen nicht breitzutreten. Weniger in die Tiefe gehen, sondern wörtlich ein Breittreten. Man spricht und zerredet, verredet, was möglicherweise gerade angefangen hat wie ein Samen im Inneren zu keimen (das Bild fließt mir vom Kopf in die Tasten und deswegen lasse ich es so). Obwohl ich nie ein Dokusan erlebt habe, fällt mir ein, man betritt den Raum des Lehrers und wird auf der Stelle mit einem Satz oder einem Wort konfrontiert, zu dem man nichts Vorgefertigtes parat hat. Eine Anrede, die so völlig außerhalb der Normalität liegt, daß man auf kein Grundmuster, das man für solche Fälle eingeübt hat, zurückgreifen kann. Die pure Leere im Kopf.

Um das Ich loszulassen, muss man es erst einmal kennenlernen – so in etwa wurde das begründet. Da ist natürlich was dran. Man muss schon einigermaßen mit sich im Reinen sein, bevor man darangehen kann sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass man dieses so wichtige Ich aufgeben soll, ja, dass es eigentlich gar nicht existiert, zumindest nicht als die Wesenheit, die wir uns gemeinhin darunter vorstellen – als die wir uns selbst vorstellen.

Für mich ist das von mir ausgemalte Bild der Begegnung mit dem Lehrer wie ein Schlüssel zum Verstehen, was es mit dem „Ich“ und seinem „Vergessen“ auf sich hat. Im e-mail-Brief hattest Du geschrieben, man ginge möglicherweise zum Lehrer, um ihm die eigenen „klugen Gedanken zu präsentieren“. Darin wird aus meiner Sicht exemplarisch deutlich, wie wir unser „Ich“ gestalten: „Ich“ bin eine kluge, eine reflektierende Person und das möchte ich gespiegelt und bestätigt bekommen. Passiert das nicht, dann ist vermutlich das, wie Du es nennst, „mit sich im Reinen sein“ wichtig, damit die Verwirrung und Orientierungslosigkeit, die aus der Nicht-Bestätigung sicher folgen, nicht zu Verwerfungen führen (ich denke an die Fragmentierung der ganzen Person). Passiert das nicht, dann wird man auf irgendeine Art und Weise reagieren, spontan; egal, was man tut, man reagiert, das Präsens.

Wahrscheinlich sind die „Rollenspiele“, von denen ich ahne, was Du mit dem Wort meinst, ein Schauplatz, auf dem sich Veränderungen, die mit dem „Ich“ verknüpft sind, als Ergebnis des „Sitzens“ zeigen.

F.

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