Brief 108 | Die Schönheit des Zazen

Liebe F.,

zunächst will ich noch ein paar Sachen ergänzen zu dem, was du inzwischen abgeschlossen hast, bevor ich dann zu etwas Neuem komme.

 

Indem ich mir Deine Situation ausmale, erkenne ich mich und meine Situation. Ich sitze in meiner Küche, sehe aus dem Fenster und denke, wie es jetzt wäre, wenn ein Mann bei mir wäre oder irgendwo an einem anderen Ort zwar, ich aber wüsste, wir wären zusammen. Gleichzeitig oder mit dem Sekundenbruchteil der Verzögerung gehe ich wieder zurück in die Realität. Nein, ich sitze hier alleine. Dies nun viele Male am Tag und fast jeden Tag und der Gedanke „wie es wäre, wenn“, der ist machtvoll ... und so erlebe ich dieses Hin und Her zwischen Realität und Wunsch tatsächlich wie einen dauernden Bruch. Manchmal, wenn der Wunsch besonders intensiv ist, gehe ich in die Realität zurück mit einem ganz kurzen Erschrecken. Es stimmt also, die Realität selbst ist ungeteilt. Und als „Bruch“ würde ich die Differenz auch bezeichnen, weil sie scharfkantig ist.

Mir ist die Aufdröselung dessen, wie es gedanklich abläuft deswegen hilfreich gewesen, weil ich damit das schillernde Wort „Sehnsucht“ genauer zu fassen bekommen habe. „Sehnsucht“ würde ich am ehesten als ein Gefühl bezeichnen, und sie ist, wenn ich es nun richtig verstehe, das Ergebnis des beschriebenen Hin- und Hergehens zwischen der Realität und dem Wünschen.

Ich glaube, ich habe jetzt einigermaßen verstanden.

Dein Hier und Jetzt, um bei dieser etwas überstrapazierten Formulierung zu bleiben, ist also das Sehnen (aktiv – ich hatte plötzlich das Gefühl, dass das Verb passender ist als das Substantiv). Während mein Hier und Jetzt oft, wie z.B. in der Krankenhausszene, mehr ein passives Erleben ist. Deshalb auch bei dir vielleicht der Antrieb zu handeln, während ich oft mit dem Status quo zufrieden bin. Meine Wahrnehmung ist aber auch sehr selektiv; meine Empfänglichkeit für das Schöne und Angenehme ist sehr viel größer als die für das Unangenehme.

 

Mir schlägt von Person X der Ton F entgegen, und ich reagiere mit meinem Ton B. Andere Töne, die ich meine wahrzunehmen, beantworte ich mit jeweils anderen Tönen von mir. „Anpassung“, wie ich zuerst dachte, ist es nicht, sondern mehr ist es wie ein Einstimmen auf den Ton eines anderen Menschen. Und der Ton eines anderen Menschen bringt in mir jeweils andere Töne zum Schwingen. Alles sind die Töne aber, die mir zur Verfügung stehen, es sind meine.

Das ist eine sehr schöne Beschreibung dessen, was in der Wechselwirkung zwischen zwei (oder auch mehr) Menschen stattfindet! (Vorausgesetzt, man lässt sich wirklich auf den anderen ein und bleibt nicht in seinem eigenen Gehäuse stecken, gedanklich und emotional.) Danke!



 Ja, ich überlege, wie ich überhaupt auf meine Frage, die, wie ich mich erinnere, ganz unvermittelt auftauchte, verfallen sein könnte. Es hat mich das Moment fasziniert. Man erklärt Dir im Krankenhaus nach dem Herzstillstand ein wenig nebulös, was passiert ist. Du fragst nach, erhältst eine ausweichende Antwort und fragst noch einmal nach, und erst dann bekommst Du die unmißverständliche Auskunft. Der medizinische Sachverhalt bleibt, wie und was er ist, ganz gleichgültig, ob Du von ihm Kenntnis hast oder nicht. Ich glaube jetzt, der Kick des Gedanken bestand darin, wie es wäre, Du wüsstest davon und tätest aber so, als wüsstest Du nicht. Das ist natürlich Unsinn, weil so zu denken unmöglich ist. Die Sache ist nüchterner, nämlich genau s o, wie Du schreibst. Hättest Du nicht dezidiert auf einer Antwort, der richtigen Antwort, bestanden, dann wüsstest Du nichts vom „totgewesensein“, und wenn Du nichts davon weißt, dann wäre es –wahrscheinlich- genau so geblieben, wie wir uns üblicherweise zu unserem eigenen Tod verhalten. Wir wissen ihn und glauben ihn nicht.  

Ich hatte beim Zu-Mir-Kommen noch gerade das Wort „Nulllinie“ gehört, das der Rettungssanitäter über mich hinweg zur Ärztin sagte. Und so merkwürdig das klingen mag – ich fand es in dem Moment einfach interessant zu erfahren, ob das wirklich so gewesen ist. Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich, noch während ich das fragte, dachte: „Bist du eigentlich bescheuert? Da wärst du anscheinend fast gestorben, und nun findest du das einfach interessant?!“



Die Schönheit des Zazen

Andererseits ist damit das Feld frei für Dich – und ich fühle mich frei, alles, was Dich „angeht“, gerne zu lesen.  

Na gut, dann: „… and now for something completely different“. (Monty Python) :-)

So wie dich zurzeit das Thema Sehnsucht beschäftigt, so ist es bei mir das Thema Meditation (bzw. die Spezialform Zazen). Ich hatte in unseren E-Mails ja schon davon berichtet. Nach eher sporadischen Anfängen bin ich nun dabei, immer tiefer einzusteigen. Und neulich habe ich mir die Standardfrage gestellt: Warum mache ich das eigentlich? Was hat mich dazu gebracht? Und was lässt mich dabeibleiben? Das beschäftigt mich nun schon eine ganze Weile, aber meine Gedanken dazu waren immer sehr diffus. Aber vor ein paar Tagen kam ich der Sache plötzlich näher: Ich fing an mit dem Meditieren kurz nach dem Tod meines Mannes. Und ich weiß noch, wie gut es mir jedes Mal getan hat, im stillen Sitzen einen Ruhepunkt in dieser aufgewühlten Zeit zu finden. Ich war dann auf eine wunderbar ruhige Weise ganz bei meinem Mann, bei meiner Trauer, bei mir. Wobei sich dann schnell die Frage eingestellt hat: Wer bin ich eigentlich, jetzt so ganz für mich allein? Diese Frage haben wir beide in unserer Anfangszeit ja ausgiebig erörtert, sie beschäftigte mich auch außerhalb der Meditation.

Das hat mich also dazu gebracht. Und was lässt mich dabeibleiben? Zunächst einmal eine eher oberflächliche, nichtsdestotrotz wesentliche Antwort („Form ist Inhalt, Inhalt ist Form“): Weil es unglaublich schön ist. Neulich setzte ich mich aufs Kissen und dachte: Jetzt tauche ich in die Schönheit des Zazen ein. Das versuche ich erst gar nicht zu beschreiben, es wäre vergeblich.

Eine eher inhaltliche Antwort ist: Ich suche weiterhin nach mir selbst, aber gleichzeitig möchte ich dieses Ich loslassen („Form ist Leere, Leere ist Form“). Diese Gleichzeitigkeit dabei fasziniert mich. Ich habe das Gefühl, dass ich mit jedem Schritt, den ich weiter in mich hineingehe, gleichzeitig einen Schritt aus mir herausmache. Es ist sehr schwierig zu beschreiben, was wohl daran liegt, dass es mir auch noch ziemlich unklar ist. Auf jeden Fall empfinde ich es als schön (ein treffenderes Wort habe ich noch nicht dafür), immer wieder einen Schritt von mir selbst zurückzutreten. Es liegt darin eine Befreiung, eine Leichtigkeit, eine Öffnung … ach, lauter so schwammige Begriffe … aber das macht nichts, es ist schön, dass ich, um das besser zu verstehen, noch einen Weg vor mir habe.

Das kann man natürlich auch ohne Meditation machen, die ist dabei nicht unbedingt notwendig. In gewisser Weise passiert dasselbe hier in unseren Briefen. Ich erkläre mir das so: Das, was ich erkannt habe, ist nach der ersten Überraschung nichts Fremdes mehr, sondern wird irgendwie integriert. Das ist dann zwar kein Loslassen, aber es wird anverwandelt, wird sozusagen unsichtbar. So kann ich diese exzessive Nabelschau, die wir hier und die ich in der Meditation betreibe und die mir eigentlich gar nicht so liegt, ein wenig vor mir selbst rechtfertigen.

Ommm. :-)))

B.

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