Liebe B.,
Dies ist jetzt der zweite Brief in Folge, in dem ich meine Selbsterforschung(en) mit Deiner Unterstützung zu einem für mich befriedigenden Abschluß habe bringen können. Es gibt, so wie Du es öfter genannt hattest, nichts oder kaum „Anschlussfähiges“, so jedenfalls beurteile ich mein Schreiben. Andererseits ist damit das Feld frei für Dich – und ich fühle mich frei, alles, was Dich „angeht“, gerne zu lesen.
[...] Ohne Sehnsucht lebe ich im „Hier und Jetzt“, alles ist einfach so, wie es gerade ist. Mit Sehnsucht teilt sich mein Denken in das, was jetzt ist, und das, was sein könnte. Mein Denken teilt sich (oder mein Realitätsempfinden oder wie immer man das ausdrücken will), nicht meine Realität! Denn die ist weiterhin so, wie sie gerade ist. Wenn ich Sehnsucht habe, ein Mangelgefühl, Wunschvorstellungen etc., dann gehören die halt zum Hier und Jetzt dazu. Das sagst du ja auch selbst („Wenn ich in diesem Moment Sehnsucht nach X spüre, dann ist diese Sehnsucht und das Mögliche, worauf sie sich bezieht auch Teil meiner Realität …“).
[...] Was auch immer ich versuche mir vorzustellen, es läuft für mich darauf hinaus, dass ein eventueller Bruch im Innern stattfindet, nicht im Außen. Es gibt keine zwei Realitäten, keine zwei Wirklichkeiten, sage ich mal ganz kategorisch. :-) Das wären sonst ja Parallelwelten.
Allerdings war ich in meinem vorigen Brief schon einen Schritt weiter, indem ich die Vermutung geäußert hatte, dass eine solche Weltsicht vielleicht nicht „die richtige“ für dich ist. In „deiner Welt“ gibt es diese Differenz nun einmal … Und ich stelle mir dieses Gefühl des Bruchs im eigenen Leben als einigermaßen anstrengend und unbefriedigend vor, um es mal sehr distanziert auszudrücken. Und ich denke, das ist viel wichtiger als eine genaue Untersuchung der Begrifflichkeiten.
Ich bin Dir sehr dankbar, daß Du an dieser Stelle noch einmal eingehakt hast, weil ich auf diese Weise Klarheit für mich habe gewinnen können. Du hast recht, ich hatte mich in der Begrifflichkeit verlaufen, die, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle spielt. Zur Veranschaulichung hatte ich eine Stelle aus Deinem Brief 104 gewählt, die ich gleich auch zitieren werde. Und während des Schreibens ist mir dann die Erleuchtung gekommen:
Und jeden Morgen – noch bevor der Weckdienst kam, noch bevor meine Zimmergenossin aufwachte, noch bevor es auf dem Flur lebendig wurde – konnte ich die Sonne aufgehen sehen. Und ich dachte: Ja, ich habe in letzter Zeit einiges nicht so Schönes mitgemacht, und wie es mit mir weitergeht, weiß ich auch nicht so genau. Aber das ist jetzt nicht wichtig, denn JETZT ist DIESER Moment. Ich habe weder Bedauern (in Richtung Vergangenheit) noch Angst (in Richtung Zukunft), ich bin einfach nur glücklich, weil ich jetzt die Sonne aufgehen sehe.
Die Realität, das Realitätsempfinden und der Moment sind eins. Angenommen, Du hättest jeden Morgen bei Sonnenaufgang in Richtung Vergangenheit in Form des Erinnerns an Deine Wohnung gedacht, wie Du dort den Sonnenaufgang erleben würdest und in Richtung Zukunft, wie schön es wäre, wenn Du jetzt in Deiner Wohnung sässest oder wie schön es sein wird, wenn Du wieder in Deiner Wohnung sein wirst und dort den Sonnenaufgang erleben kannst ... genau an dieser Stelle kam mir die Erhellung.
Indem ich mir Deine Situation ausmale, erkenne ich mich und meine Situation. Ich sitze in meiner Küche, sehe aus dem Fenster und denke, wie es jetzt wäre, wenn ein Mann bei mir wäre oder irgendwo an einem anderen Ort zwar, ich aber wüsste, wir wären zusammen. Gleichzeitig oder mit dem Sekundenbruchteil der Verzögerung gehe ich wieder zurück in die Realität. Nein, ich sitze hier alleine. Dies nun viele Male am Tag und fast jeden Tag und der Gedanke „wie es wäre, wenn“, der ist machtvoll ... und so erlebe ich dieses Hin und Her zwischen Realität und Wunsch tatsächlich wie einen dauernden Bruch. Manchmal, wenn der Wunsch besonders intensiv ist, gehe ich in die Realität zurück mit einem ganz kurzen Erschrecken. Es stimmt also, die Realität selbst ist ungeteilt. Und als „Bruch“ würde ich die Differenz auch bezeichnen, weil sie scharfkantig ist.
Mir ist die Aufdröselung dessen, wie es gedanklich abläuft deswegen hilfreich gewesen, weil ich damit das schillernde Wort „Sehnsucht“ genauer zu fassen bekommen habe. „Sehnsucht“ würde ich am ehesten als ein Gefühl bezeichnen, und sie ist, wenn ich es nun richtig verstehe, das Ergebnis des beschriebenen Hin- und Hergehens zwischen der Realität und dem Wünschen.
„Unbefriedigend“, „anstrengend“, ja, „unglücklich“ eben. Mir ist nun aber im Zusammenhang mit der Küchentisch-Szenerie noch etwas eingefallen, das mir bisher auch nur verschwommen klar war. Ich sitze nicht am Küchentisch und denke mir, wie schön es wäre, wenn ich jetzt Kinder und Enelkinder hätte, weil das nun einmal nicht mehr zu ändern ist und überdies mein Wille war. Gelegentlich spüre ich ein leichtes Bedauern und damit hat es sein Bewenden. Ich sitze auch nicht am Küchentisch und denke mir, wie schön es wäre, wenn ich meine Krankheit nicht hätte. Ich habe sie, und ich kann daran nichts ändern. Wie schön es wäre, wenn jetzt ein Mann bei mir wäre zu denken, das ist zugleich der Antrieb zum Handeln, d.h. eine Situation zu schaffen, in der ich nicht mehr am Küchentisch sitze und im Konjunktiv denken muß.
Es ist ja auch nicht so, dass man sich als abgeschlossenes Wesen empfindet und nun alles, was kommt, darauf bezieht und damit vergleicht. Sondern dieses eigene Wesen formt sich ja in Beziehung auf andere(s). Und das läuft erstens „unterm Radar“ ab, und warum sollte das zweitens nicht auch manchmal überraschend sein, auch für einen selbst? Was ich sagen will: Man kann sich ja durchaus einlassen auf Sichtweisen, die auf den ersten Blick nicht zu einem zu passen scheinen. Man spielt erst einmal damit, und wer weiß, vielleicht entdeckt man auf diese Weise ja auch neue Seiten an sich.
Das ist eine wundervolle Vorlage, um ein bisschen von meinen jüngsten Erfahrungen mit mir im –schriftlichen- Umgang mit den Männern zu erzählen, denen ich in den Suchportalen begegne. Mir ist sehr schnell, überraschend für mich, aufgefallen, wie unterschiedlich ich spreche bzw. schreibe. Bin immer ich es, die redet? Ernsthaft, betulich, leichtfüßig, locker, aufgeräumt, schwermütig, klug, flapsig, charmant, spröde, sperrig ... sehr vielfältige Arten des Ausdrucks. Und ja, natürlich bin immer ich es. Ich würde nicht sagen, daß ich mich verstelle, denn ich bin während des Schreibens die, die ich bin. „Unter dem Radar“ finde ich, drückt es sehr gut aus, denn ich schreibe intuitiv, ohne mir zu überlegen, welche der vielen Personen von mir ich durchblicken lassen möchte. Nein, ich muß es anders formulieren, weil darin genau ja meine Überraschung besteht: Wie viele Personen oder Aspekte meiner Person zum Vorschein kommen (das Thema haben wir schon erörtert [Brief 70, „Buntscheckige Fetzen“], nur habe ich es damals nicht so „am eigenen Leibe“ unmittelbar erlebt wie gegenwärtig. Mir schlägt von Person X der Ton F entgegen, und ich reagiere mit meinem Ton B. Andere Töne, die ich meine wahrzunehmen, beantworte ich mit jeweils anderen Tönen von mir. „Anpassung“, wie ich zuerst dachte, ist es nicht, sondern mehr ist es wie ein Einstimmen auf den Ton eines anderen Menschen. Und der Ton eines anderen Menschen bringt in mir jeweils andere Töne zum Schwingen. Alles sind die Töne aber, die mir zur Verfügung stehen, es sind meine.
„Neue Sichtweisen“ weiß ich im Moment nicht, was aber auch daran liegen kann, daß ich sie nur einfach noch nicht bewusst wahrgenommen habe. Oder doch, zumindest lerne ich die Perspektiven vieler anderer Menschen kennen, was mir ermöglicht, neue, nämlich ihre Blickwinkel einzunehmen. „Neue Seiten an mir“ habe ich noch nicht entdeckt, ich vermute allerdings, daß die sich eher in persönlichen Begegnungen zeigen würden und könnten, denn mein Verhaltensrepertoire im Schriftlichen ist weitaus größer als bei persönlichen Kontakten.
Erst einmal reagiere ich gar nicht :-), denn ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Wenn ich nicht klinisch tot gewesen wäre, dann hätte ich all diese Gedanken über Sterblichkeit und begrenzte Lebenszeit nicht so konkret wie jetzt, sondern nur so theoretisch wie die meisten Menschen. Jeder weiß, dass er oder sie „irgendwann mal“ stirbt, aber das spielt für das eigene Leben keine praktische Rolle. Praktisch fühlt man sich unsterblich, daran ändert das Wissen um die Sterblichkeit nichts (jedenfalls war das bei mir so). Jetzt ist es bei mir anders, dichter.
Aber nein, du hast ja nicht gefragt, was sich durch die Herzgeschichte verändert hat, sondern wie es jetzt bei mir wäre, wenn diese Herzgeschichte gar nicht stattgefunden hätte (oder ich zumindest nichts von ihr gewusst hätte). Tja, wie soll ich das wissen? Mein Leben IST nun einmal diese Abzweigung gegangen – wie soll ich wissen, wohin ich auf dem anderen Weg gekommen wäre? Aber diese Frage könnte man sich bei allen Gabelungen stellen.
Ja, ich überlege, wie ich überhaupt auf meine Frage, die, wie ich mich erinnere, ganz unvermittelt auftauchte, verfallen sein könnte. Es hat mich das Moment fasziniert. Man erklärt Dir im Krankenhaus nach dem Herzstillstand ein wenig nebulös, was passiert ist. Du fragst nach, erhältst eine ausweichende Antwort und fragst noch einmal nach, und erst dann bekommst Du die unmißverständliche Auskunft. Der medizinische Sachverhalt bleibt, wie und was er ist, ganz gleichgültig, ob Du von ihm Kenntnis hast oder nicht. Ich glaube jetzt, der Kick des Gedanken bestand darin, wie es wäre, Du wüsstest davon und tätest aber so, als wüsstest Du nicht. Das ist natürlich Unsinn, weil so zu denken unmöglich ist. Die Sache ist nüchterner, nämlich genau s o, wie Du schreibst. Hättest Du nicht dezidiert auf einer Antwort, der richtigen Antwort, bestanden, dann wüsstest Du nichts vom „totgewesensein“, und wenn Du nichts davon weißt, dann wäre es –wahrscheinlich- genau so geblieben, wie wir uns üblicherweise zu unserem eigenen Tod verhalten. Wir wissen ihn und glauben ihn nicht.
F.
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