Liebe B.,
Die Null-Linie
Ich hatte beim Zu-Mir-Kommen noch gerade das Wort „Nulllinie“ gehört, das der Rettungssanitäter über mich hinweg zur Ärztin sagte. Und so merkwürdig das klingen mag – ich fand es in dem Moment einfach interessant zu erfahren, ob das wirklich so gewesen ist. Ich kann mich genau daran erinnern, dass ich, noch während ich das fragte, dachte: „Bist du eigentlich bescheuert? Da wärst du anscheinend fast gestorben, und nun findest du das einfach interessant?!“
Deine Beobachtung weckt in mir sofort Erinnerungen, weil ich dieselbe Erfahrung in Verbindung mit medizinischen Diagnosen auch gemacht habe, wobei es bei mir lediglich um das Anschauen von Bildern (Ultraschall, MRT, CT) oder die Besprechung von Blutwerten ging, also vergleichsweise um Lappalien. Und dennoch scheint mir das Erleben und Reflektieren ganz und gar übereinzustimmen, was sich in dem Wort „interessant“ verdichtet. So, als beträfe das Ereignis nicht mich, sondern mich in einer Betrachtungsweise, wie die Ärzt*innen mich ansehen, als eine fremde Person. Es ist banal, diese Reaktion als eine Abwehr zu verstehen oder allgemeiner gesagt, als ein Unvermögen, das Geschehen ganz zu erfassen (mit Unvermögen meine ich kein Defizit). Mir fällt jetzt das Jahr ein, in dem mein Mann krank war; er und ich haben oft die Röntgenbilder mit den dazugehörigen Befunden angesehen und gelesen und uns sachlich informiert; die Größe und das Wachstum der Carcinome wie unbeteiligte Beobachter betrachtet, uns in die Beschreibung der verschiedenen Zellformen usw. vertieft –und, wenn ich mich nun genauer daran erinnere, dann war es für mich, von meinem Mann weiß ich es nicht, eine Möglichkeit, sein langsames Sterben zu bewältigen. Es war mir emotional nicht fassbar, und so habe ich mich dem medizinischen Teil zugewandt. Aber ich wusste, was ich tue, den Sinn und Zweck des „interessant“ habe ich auf einer weiteren, der Reflexionsebene begriffen. Weil das Geschehnis sich nicht auf einen Moment zugespitzt hat wie bei Dir, ist Dein „bist du eigentlich bescheuert“ zwar gedanklich etwas elaborierter gewesen, vom Grunde her war aber dasselbe gemeint.
Zazen
So wie dich zurzeit das Thema Sehnsucht beschäftigt, so ist es bei mir das Thema Meditation (bzw. die Spezialform Zazen). Ich hatte in unseren E-Mails ja schon davon berichtet. Nach eher sporadischen Anfängen bin ich nun dabei, immer tiefer einzusteigen. Und neulich habe ich mir die Standardfrage gestellt: Warum mache ich das eigentlich? Was hat mich dazu gebracht? Und was lässt mich dabeibleiben? Das beschäftigt mich nun schon eine ganze Weile, aber meine Gedanken dazu waren immer sehr diffus. Aber vor ein paar Tagen kam ich der Sache plötzlich näher: Ich fing an mit dem Meditieren kurz nach dem Tod meines Mannes. Und ich weiß noch, wie gut es mir jedes Mal getan hat, im stillen Sitzen einen Ruhepunkt in dieser aufgewühlten Zeit zu finden. Ich war dann auf eine wunderbar ruhige Weise ganz bei meinem Mann, bei meiner Trauer, bei mir. Wobei sich dann schnell die Frage eingestellt hat: Wer bin ich eigentlich, jetzt so ganz für mich allein? Diese Frage haben wir beide in unserer Anfangszeit ja ausgiebig erörtert, sie beschäftigte mich auch außerhalb der Meditation.
Du hattest davon niemals erzählt und meine Vermutung ist, daß Du es deswegen nie erzählt hast, weil Du das „stille Sitzen“ damals nicht „meditieren“ genannt hattest, und dies möglicherweise wegen der fehlenden „Form“, d.h. der Beiläufigkeit oder besser Absichtslosigkeit, in der Du „still gesessen“ hast.
Das hat mich also dazu gebracht. Und was lässt mich dabeibleiben? Zunächst einmal eine eher oberflächliche, nichtsdestotrotz wesentliche Antwort („Form ist Inhalt, Inhalt ist Form“): Weil es unglaublich schön ist. Neulich setzte ich mich aufs Kissen und dachte: Jetzt tauche ich in die Schönheit des Zazen ein. Das versuche ich erst gar nicht zu beschreiben, es wäre vergeblich.
Weil die „Form“ wesentlich mit dem „Inhalt“ verknüpft ist, möchte ich Dir zur „Form“ Fragen stellen, d.h. meine Fragen verstehe ich nicht als Fragen zu Äußerlichkeiten, sondern als Fragen, die dem Inhalt nicht äußerlich sind. Du hast jetzt, im Unterschied zu der Zeit vor einigen Jahren, einen bestimmten Ort in Deiner Wohnung, das Zafu liegt an diesem Ort oder wechselst Du? Du meditierst zu einer ganz bestimmten Zeit bzw. zu mehreren festgelegten Zeiten? Du hast eine festgelegte Dauer? Und zu der Dauer möchte ich wissen, wie Du sie Dir anzeigen lässt? Ja, das finde ich, ist ein interessanter Punkt. Wie weißt Du, wann die Sitzzeit vorüber ist? Benutzt Du eine Sanduhr, einen Wecker? (der Wecker wirkt komisch, so sicher nicht) oder siehst Du auf eine schlichte Uhr, die Du in Sichtweite hast? Da die Kleidung auch zur Form gehört, so wirst Du Dich umkleiden, nehme ich an? Trägst Du schwarze Kleidung?
Gelesen habe ich über das Za-Zen kaum, nur von meiner Erfahrung her würde ich die Schönheit des Za-Zen in der Schlichtheit vermuten. Der einfachen strengen Form, unverschnörkelt.
Mich zieht die Aussage „Inhalt ist Form“ und „Form ist Inhalt“ an. Als ein Beispiel dafür, was gemeint sein könnte, muß ich, weil mir kein anderes Wissen zur Verfügung steht, auf die christliche Liturgie zurückgreifen. Bei der Kommunion nimmt man eine Oblate in den Mund und schluckt sie. Das ist die Form. Die Form „be-deutet“ nun und sie be-deutet so, daß der Leib Christi aufgenommen wird. Das ist der Inhalt. Der Inhalt ist umfangreich, und ich lasse ihn hier außer Acht. Wichtig ist, daß die Form vom Inhalt nicht zu unterscheiden ist. Indem man also die Oblate in den Mund nimmt, geht die gesamte inhaltliche Bedeutung in die Form ein (die Oblate heißt daher nicht mehr Oblate, sondern „Hostie“). Die Form wird in Inhalt verwandelt und der Inhalt gibt die Form.
Eine eher inhaltliche Antwort ist: Ich suche weiterhin nach mir selbst, aber gleichzeitig möchte ich dieses Ich loslassen („Form ist Leere, Leere ist Form“). Diese Gleichzeitigkeit dabei fasziniert mich. Ich habe das Gefühl, dass ich mit jedem Schritt, den ich weiter in mich hineingehe, gleichzeitig einen Schritt aus mir herausmache. Es ist sehr schwierig zu beschreiben, was wohl daran liegt, dass es mir auch noch ziemlich unklar ist. Auf jeden Fall empfinde ich es als schön (ein treffenderes Wort habe ich noch nicht dafür), immer wieder einen Schritt von mir selbst zurückzutreten. Es liegt darin eine Befreiung, eine Leichtigkeit, eine Öffnung … ach, lauter so schwammige Begriffe … aber das macht nichts, es ist schön, dass ich, um das besser zu verstehen, noch einen Weg vor mir habe.
Mir fällt eine andere Raummetaphorik dazu ein, die des frühen christlichen Mönchtums. Der Rückzug in eine winzige Zelle, in der es nichts, was die Sinne affiziert, zu sehen oder zu hören gibt; das Leben in der räumlichen Enge schafft eine Weite des Geistes. Die Welt wird auf einen winzigen Ort verengt, wobei mit der Verengung gleichzeitig eine Weitung des Raumes entsteht. Nunja, das Bild hängt schief, weil bei Dir die eine Bewegung gleichzeitig die gegenläufige Bewegung hervorbringt.
Das kann man natürlich auch ohne Meditation machen, die ist dabei nicht unbedingt notwendig. In gewisser Weise passiert dasselbe hier in unseren Briefen. Ich erkläre mir das so: Das, was ich erkannt habe, ist nach der ersten Überraschung nichts Fremdes mehr, sondern wird irgendwie integriert. Das ist dann zwar kein Loslassen, aber es wird anverwandelt, wird sozusagen unsichtbar. So kann ich diese exzessive Nabelschau, die wir hier und die ich in der Meditation betreibe und die mir eigentlich gar nicht so liegt, ein wenig vor mir selbst rechtfertigen.
Ommm. :-)))
Auf keinen Fall möchte ich Dich bitten, das, was Du nicht gerne herzeigst, offenzulegen, nur wüsste ich gerne, inwiefern Du die Meditation hier überhaupt mit der „Nabelschau“ in Verbindung bringst. Was die Briefe angeht, ist es mir klar. Die Frage geht vielleicht in die Richtung dessen, was Du –noch- überhaupt nicht näher fassen kannst? Auf meine eigene kurze Meditations-Erfahrung zurückgreifend, würde ich vermuten, daß es sich bei dem „in sich hineingehen“ weniger um einen gedanklichen Prozeß handelt? Die während der Meditation fließenden Gedankenströme sind ja absichtslos, ereignen sich wie von selbst und werden auch nicht reflektiert, zumindest nicht während des „Sitzens“? Ein nicht Sprachliches in sich gehen?
F.
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