Liebe F.,
dies wird, so lese ich ihn, einer der Briefe sein, die hauptsächlich aus Abschlüssen bestehen. Schön ist das für mich, ein wenig langweilig vielleicht und unbequemer für Dich.
Gut, dann lasse ich alles, was ich auch als einigermaßen abgeschlossen empfinde, jetzt unberücksichtigt.
Parallelwelten
Ja, meine Formulierung war mehr als „unglücklich“. Ich versuche es noch einmal, in verständlicher Sprache. Die Sehnsucht bezieht sich auf etwas Mögliches, etwas, das sein könnte, aber jetzt nicht ist. Gäbe es sie nicht, dann gäbe es nur die Realität jetzt (oder den Moment jetzt). Insofern teilt die Sehnsucht die Realität, indem sie einen Bereich schafft, der Nicht-Realität ist. Das Mögliche, wenn es durch die Sehnsucht hineingezogen wird in die Realität, dann bezeichne ich beide (Realität und Mögliches) zusammen als Wirklichkeit. Konkreter: Wenn ich in diesem Moment Sehnsucht nach X spüre, dann ist diese Sehnsucht und das Mögliche, worauf sie sich bezieht, auch Teil meiner Realität und dieses Ganze bezeichne ich als Wirklichkeit. Die Sehnsucht teilt das Eine, nämlich die Realität in Zwei, sie schafft eine Differenz, die ohne sie nicht wäre und das Ergebnis ist ein Drittes, die Wirklichkeit (irgendeinen Namen muß ich geben, :-))) auf ihn kommt es mir aber nicht an).
Ich habe immer noch Probleme, das zu verstehen. Ich versuche mal, es mit meinen eigenen Worten auszudrücken: Ohne Sehnsucht lebe ich im „Hier und Jetzt“, alles ist einfach so, wie es gerade ist. Mit Sehnsucht teilt sich mein Denken in das, was jetzt ist, und das, was sein könnte. Mein Denken teilt sich (oder mein Realitätsempfinden oder wie immer man das ausdrücken will), nicht meine Realität! Denn die ist weiterhin so, wie sie gerade ist. Wenn ich Sehnsucht habe, ein Mangelgefühl, Wunschvorstellungen etc., dann gehören die halt zum Hier und Jetzt dazu. Das sagst du ja auch selbst („Wenn ich in diesem Moment Sehnsucht nach X spüre, dann ist diese Sehnsucht und das Mögliche, worauf sie sich bezieht auch Teil meiner Realität …“).
Ich verstehe einfach nicht, woher die Differenz, der Bruch kommen. Wenn jemand sich zu großen Teilen aus der Realität verabschiedet und nur noch in seinen sehnsüchtigen Fantasievorstellungen lebt – meinst du so etwas? Oder jemand führt notdürftig sein ganz normales Leben weiter, Außenstehende bemerken gar nichts, aber hinter dieser Fassade fühlt sich das nur leer und falsch an? Was auch immer ich versuche mir vorzustellen, es läuft für mich darauf hinaus, dass ein eventueller Bruch im Innern stattfindet, nicht im Außen. Es gibt keine zwei Realitäten, keine zwei Wirklichkeiten, sage ich mal ganz kategorisch. :-) Das wären sonst ja Parallelwelten.
Allerdings war ich in meinem vorigen Brief schon einen Schritt weiter, indem ich die Vermutung geäußert hatte, dass eine solche Weltsicht vielleicht nicht „die richtige“ für dich ist. In „deiner Welt“ gibt es diese Differenz nun einmal … Und ich stelle mir dieses Gefühl des Bruchs im eigenen Leben als einigermaßen anstrengend und unbefriedigend vor, um es mal sehr distanziert auszudrücken. Und ich denke, das ist viel wichtiger als eine genaue Untersuchung der Begrifflichkeiten.
Spielerisch
Das ist eine feine Beobachtung, zu der ich inhaltlich nichts zu sagen weiß. Ich erinnere mich lediglich an verschiedene Schreibsituationen, wie zuletzt die, als Du die Sehnsucht als zu Dir gehörend beschrieben hast, in denen ich den Impuls hatte, Dir folgen zu wollen, der dann meine weiteren Gedanken bestimmt. Ob es zu mir passt oder nicht, darüber denke ich in solchen Situationen gar nicht nach.
Das ist nun wiederum eine feine Beobachtung von dir. Ja, man fühlt sich von etwas angesprochen, also wird da auch etwas in einem sein, was dazu passt, auch wenn das gar nicht bewusst wird. Wie tragfähig das dann auf Dauer ist oder wie sehr man das verändert und an seine eigenen Bedürfnisse anpasst, steht auf einem anderen Blatt, das ist erst einmal nachrangig.
Es ist ja auch nicht so, dass man sich als abgeschlossenes Wesen empfindet und nun alles, was kommt, darauf bezieht und damit vergleicht. Sondern dieses eigene Wesen formt sich ja in Beziehung auf andere(s). Und das läuft erstens „unterm Radar“ ab, und warum sollte das zweitens nicht auch manchmal überraschend sein, auch für einen selbst? Was ich sagen will: Man kann sich ja durchaus einlassen auf Sichtweisen, die auf den ersten Blick nicht zu einem zu passen scheinen. Man spielt erst einmal damit, und wer weiß, vielleicht entdeckt man auf diese Weise ja auch neue Seiten an sich.
An der Gabelung
Zur „Ausnahmesituation“ erinnere ich ein zweite Ausnahmesituation. Ganz zu Beginn unseres Briefwechsels hier (ich möchte das nicht heraussuchen) hattest Du erzählt, Du habest alles „erreicht“, was ein weiblicher Mensch in ihrem Leben erreichen kann (Kinder, Ehemann, Beruf und sogar eine Schrift-Veröffentlichung) und nun sei alles, was nach dem Tod Deines Mannes noch folgen könnte, eine „Zugabe“. Das bezog sich, soweit ich mich erinnere –ähnlich wie jetzt- auf Deine Offenheit gegenüber allem, was noch kommen könnte und eben auch darauf, nichts Bestimmtes noch wollen oder tun zu müssen. Damals war es eine Zäsur, die Deine Lebensumstände komplett verändert hat, das Ende einer bestimmten Lebensform, was man von den Ereignissen im vergangenen Herbst nicht sagen kann. Das bringt mich auf ein verwegenes Gedankenspiel: Hättest Du im Herbst nicht ausdrücklich nachgefragt, oder hättest Du eine andere Antwort bekommen oder anders gesagt, wüsstest Du gar nichts von der Wieder-Belebung, wie wäre es dann weitergegangen? Wie reagierst Du? Gelangweilt, weil es ein nichtsnütziger müßiger Gedanke ist oder springst Du darauf an?
Erst einmal reagiere ich gar nicht :-), denn ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Wenn ich nicht klinisch tot gewesen wäre, dann hätte ich all diese Gedanken über Sterblichkeit und begrenzte Lebenszeit nicht so konkret wie jetzt, sondern nur so theoretisch wie die meisten Menschen. Jeder weiß, dass er oder sie „irgendwann mal“ stirbt, aber das spielt für das eigene Leben keine praktische Rolle. Praktisch fühlt man sich unsterblich, daran ändert das Wissen um die Sterblichkeit nichts (jedenfalls war das bei mir so). Jetzt ist es bei mir anders, dichter. Aber ich denke., dass es so sein wird wie mit dem Tod meines Mannes: Die Zeit geht darüber hinweg, der akute Schmerz (das Todesbewusstsein) wird schwächer, „these things, they go away, replaced by everyday“, wie es bei R.E.M. („Nightswimming“) heißt. (Dieses Lied habe ich mir übrigens bei meinen Töchtern für meine Beerdigung gewünscht. :-))
Oder meinst du, ob sich dadurch am Charakter der „ersten Zugabe“ etwas geändert hat? Ob sie dadurch vielleicht außer Kraft gesetzt worden ist? Keine Ahnung. Das ist mir auch zu kompliziert, das aufzudröseln, glaube ich.
Aber nein, du hast ja nicht gefragt, was sich durch die Herzgeschichte verändert hat, sondern wie es jetzt bei mir wäre, wenn diese Herzgeschichte gar nicht stattgefunden hätte (oder ich zumindest nichts von ihr gewusst hätte). Tja, wie soll ich das wissen? Mein Leben IST nun einmal diese Abzweigung gegangen – wie soll ich wissen, wohin ich auf dem anderen Weg gekommen wäre? Aber diese Frage könnte man sich bei allen Gabelungen stellen.
B.
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