Brief 105 | Gedankenspiel

Liebe B.,

dies wird, so lese ich ihn, einer der Briefe sein, die hauptsächlich aus Abschlüssen bestehen. Schön ist das für mich, ein wenig langweilig vielleicht und unbequemer für Dich.  

Nachträge

Ich glaube, ich verstehe „Ideal“ ein wenig anders als du. Es liegt nicht notwendig ein unüberbrückbarer Graben zwischen mir und dem Ideal. Eigentlich ist da doch im Gegenteil eine Verbindung, ein Weg, auf dem ich dem Ideal immer ähnlicher werden kann. Sicher, man will eine andere werden als die, die man gerade jetzt ist. Aber dieses Verhältnis impliziert in meinen Augen kein notwendiges Versagen, sondern eher eine schrittweise Annäherung, auch wenn ich dabei vielleicht manchmal straucheln, vom Weg abkommen, die Orientierung verlieren kann. Das macht doch nichts. – Ein anderes Thema wäre, ob man überhaupt ein Ideal braucht. Ich sehe das zwiespältig. Einerseits fühlt man sich, wenn man sich mit einem Ideal vergleicht, nicht vollkommen, da gebe ich dir recht, und das ist schade; andererseits finde ich es nicht schlecht, ein Ziel für eine Entwicklung vor Augen zu haben. Vielleicht darf man das einfach nicht so streng sehen. Ein Ideal ist eine Orientierungshilfe, ein Wegweiser, mehr nicht. Es ist mein Ideal, ich habe es aufgestellt, also kann ich es auch ignorieren, wenn ich das möchte. Oder austauschen, wenn es sich als das falsche Ideal herausstellt.

Ich hatte auf Deine Überlegungen geantwortet, die Du mit „Falsche Ideale“ überschriftet hattest. Deswegen hatte ich lediglich diesen einen Aspekt erwähnt, nämlich den von Ansprüchen an die eigene Person, die man aufgrund seines Wesens gar nicht erfüllen kann. Sehr plakativ: Das Reh, das ein Löwe sein möchte, obwohl ihm einiges, das zur Löwennatur gehört, fehlt. Allem, was Du oben schreibst, schließe ich mich an. Wir verstehen unter einem „Ideal“ genau dasselbe.

[...] Peinliche, unangenehme, anstrengende, langweilige, schöne Momente – warum sollte ich auf alle gleich reagieren?

Nur ganz beiläufig und am Rande, weil Du öfter (öfter als ich zum Beispiel) das Wort „peinlich“ schreibst. Gelegentlich, zum Glück selten, während ich spreche und gestikuliere, komme ich mit der Hand an meine Brille und sie verrutscht ein wenig. Das ist mir immer s e h r peinlich, und ich denke vor mich hin, ob man nicht auch „schämen“ sagen könnte. Eine andere Sache ist die, was an der Situation ich (man) als peinlich empfinde oder empfinden könnte und worüber ich mich wohl schäme. Ich bin auch deswegen am Wort „peinlich“ hängengeblieben, weil die Peinlichkeit, soweit ich die philosophische Literatur überblicken kann, im Rahmen von Gefühlstheorien ein kümmerliches Dasein fristet.     

Den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität, und wieso dazwischen ein Spalt ist, habe ich nicht verstanden. Könntest du das näher erläutern?

Ja, meine Formulierung war mehr als „unglücklich“. Ich versuche es noch einmal, in verständlicher Sprache. Die Sehnsucht bezieht sich auf etwas Mögliches, etwas, das sein könnte, aber jetzt nicht ist. Gäbe es sie nicht, dann gäbe es nur die Realität jetzt (oder den Moment jetzt). Insofern teilt die Sehnsucht die Realität, indem sie einen Bereich schafft, der Nicht-Realität ist. Das Mögliche, wenn es durch die Sehnsucht hineingezogen wird in die Realität, dann bezeichne ich beide (Realität und Mögliches) zusammen als Wirklichkeit. Konkreter: Wenn ich in diesem Moment Sehnsucht nach X spüre, dann ist diese Sehnsucht und das Mögliche, worauf sie sich bezieht, auch Teil meiner Realität und dieses Ganze bezeichne ich als Wirklichkeit. Die Sehnsucht teilt das Eine, nämlich die Realität in Zwei, sie schafft eine Differenz, die ohne sie nicht wäre und das Ergebnis ist ein Drittes, die Wirklichkeit (irgendeinen Namen muß ich geben, :-))) auf ihn kommt es mir aber nicht an).      

Gerade kommt mir der Verdacht, dass das vielleicht auch ein für dich falsches Ideal sein könnte? Ich habe es so beschrieben, so wie ich das Ideal der glücklich alleinlebenden Frau beschrieben habe, und beide Male erhoffst du dir davon für dich selbst eine positive Wirkung. Aber wir sind so verschieden, vielleicht taugt vieles von dem, was für mich gut ist, für dich gar nicht?    

Das ist eine feine Beobachtung, zu der ich inhaltlich nichts zu sagen weiß. Ich erinnere mich lediglich an verschiedene Schreibsituationen, wie zuletzt die, als Du die Sehnsucht als zu Dir gehörend beschrieben hast, in denen ich den Impuls hatte, Dir folgen zu wollen, der dann meine weiteren Gedanken bestimmt. Ob es zu mir passt oder nicht, darüber denke ich in solchen Situationen gar nicht nach.  

Mir scheint, wir „kosten“ gerade beide unsere Extreme aus, du die negativen, ich die positiven. „Auskosten“ in Anführungszeichen, weil das bei dir ja eher schmerzhaft abläuft. Dennoch scheinst du auch so etwas wie Stolz daraus zu ziehen, dass du dich so kompromisslos zu deiner Negativität bekennen kannst. Ich glaube, Stolz ist hier nicht der richtige Ausdruck, aber mir fällt leider kein passenderer ein. Du wirst besser wissen, was ich hier gemeint haben könnte! :-)

Du hast –wieder fein beobachtend, wie ich finde- einen Aspekt meiner Haltung erfasst, den zu verschriftlichen ich mich bisher nicht getraut habe. Was aber nichts mit Dir zu tun hat, sondern darin begründet ist, daß ich mich selber gesträubt habe, ihn schwarz auf weiß zu fixieren. Ich glaube, den Grund für mein Sträuben hast Du ebenfalls erfasst. Ich möchte glücklich und nicht unglücklich sein (laß uns die Begrifflichkeit des „glücklich“ nicht neu erörtern) und diesen Stolz brauche ich nicht. Ich will ihn nicht festhalten. Aber ich fühle mich von Dir sehr verstanden und ein besseres Wort als „Stolz“ weiß ich auch nicht.

Momente

Diese Momente wirklich als Kostbarkeit wertzuschätzen hat bei mir allerdings erst vor kurzem eingesetzt, genauer gesagt, als ich im Krankenhaus lag. In der zweiten Woche, als das alles nicht mehr ganz so bedrohlich war, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit dem Leben davonkomme, deutlich zugenommen hatte, lag ich in einem Zimmer im 6. Stock mit Blick nach Osten. Und jeden Morgen – noch bevor der Weckdienst kam, noch bevor meine Zimmergenossin aufwachte, noch bevor es auf dem Flur lebendig wurde – konnte ich die Sonne aufgehen sehen. Und ich dachte: Ja, ich habe in letzter Zeit einiges nicht so Schönes mitgemacht, und wie es mit mir weitergeht, weiß ich auch nicht so genau. Aber das ist jetzt nicht wichtig, denn JETZT ist DIESER Moment. Ich habe weder Bedauern (in Richtung Vergangenheit) noch Angst (in Richtung Zukunft), ich bin einfach nur glücklich, weil ich jetzt die Sonne aufgehen sehe.

Dies ist eine Passage, wie sie öfter in Deinen Briefen vorkommt, zu der ich nichts weiter zu sagen habe – außer daß sie eine kleine Flut von Erinnerungen auslöst, hier sind es Erinnerungen an Glücksmomente in meinem Leben.

Nun kann man sagen, dass das eine Ausnahmesituation gewesen ist, und das stimmt natürlich. Aber sie hat fortgewirkt. Ich habe das erst gar nicht so gemerkt, war sogar etwas verwundert, dass diese Ereignisse so wenig Spuren hinterlassen haben. Aber mittlerweile merke ich immer deutlicher, wie mein Verhältnis zum Leben sich unterschwellig doch verändert hat. Ich bin jetzt im „Bonusprogramm“ – auf diesen Begriff bin ich neulich gekommen :-) –, und alles, was jetzt noch geschieht, ist eine Zugabe. Und das fühlt sich tatsächlich wie die Zugaben nach einem Konzert an. Das Konzert ist zu Ende, es hat alles einigermaßen geklappt, die Anspannung lässt nach, und nun kann man ganz gelöst und ohne Erwartungsdruck noch ein, zwei Stücke spielen. Und wie in einem Konzert haben diese Zugaben einen ganz besonderen Zauber. Einerseits wird immer unwichtiger, WAS da gespielt wird, es ist einfach nur schön, noch ein wenig mehr zu hören. Andererseits kann ich diese Zugaben umso intensiver genießen, als ich weiß, dass gleich doch Schluss sein wird.

Das Obige kann ich nicht als unbeteiligte Beobachterin lesen, d.h. ich kann nicht „empathisch mitschwingen“ (dieser blumige Ausdruck fiel mir als erstes ein und hat sich anscheinend so festgesetzt, daß ich keine anderen Worte mehr finde), ich bin befangen. „Dass gleich doch Schluss sein wird“ (egal, wie es sich aus physiologischer Sicht verhalten mag) würde für mich bedeuten, Dich zu verlieren. Da ich nun keine Stoikerin bin und auch keine Heilige, sondern ein normaler Mensch, kann ich Deiner „Leichtigkeit“ (ein Wort aus Deinem e-mail-Brief) zwar gedanklich folgen, sie löst zugleich aber einen Widerstand aus. Oder nein, wenn ich es noch genauer bedenke, dann bin ich ambivalent. Ich möchte mich gern und kann dies auch ohne Mühe, einschwingen in Dein Gefühl, und gleichzeitig nehme ich meinen Widerstand wahr.

Aber das ist, wie gesagt, einer Ausnahmesituation geschuldet und deshalb nicht ohne Weiteres auf andere übertragbar.

Zur „Ausnahmesituation“ erinnere ich ein zweite Ausnahmesituation. Ganz zu Beginn unseres Briefwechsels hier (ich möchte das nicht heraussuchen) hattest Du erzählt, Du habest alles „erreicht“, was ein weiblicher Mensch in ihrem Leben erreichen kann (Kinder, Ehemann, Beruf und sogar eine Schrift-Veröffentlichung) und nun sei alles, was nach dem Tod Deines Mannes noch folgen könnte, eine „Zugabe“. Das bezog sich, soweit ich mich erinnere –ähnlich wie jetzt- auf Deine Offenheit gegenüber allem, was noch kommen könnte und eben auch darauf, nichts Bestimmtes noch wollen oder tun zu müssen. Damals war es eine Zäsur, die Deine Lebensumstände komplett verändert hat, das Ende einer bestimmten Lebensform, was man von den Ereignissen im vergangenen Herbst nicht sagen kann. Das bringt mich auf ein verwegenes Gedankenspiel: Hättest Du im Herbst nicht ausdrücklich nachgefragt, oder hättest Du eine andere Antwort bekommen oder anders gesagt, wüsstest Du gar nichts von der Wieder-Belebung, wie wäre es dann weitergegangen? Wie reagierst Du? Gelangweilt, weil es ein nichtsnütziger müßiger Gedanke ist oder springst Du darauf an?    

F.

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