Liebe F.,
Ideale
Mir gefällt Deine pointierte Formulierung, denn ein „Ideal“ ist wohl das Gegenstück zur Vollkommenheit des Soseins in diesem Moment. Mit dem „Ideal“ stellt man den Anspruch, eine Andere zu sein als die, die man ist. Infolgedessen kann daraus nur resultieren, ständig Misserfolge zu erfahren, denn zwangsläufig erfüllt man die selbst gesetzten Ansprüche nicht. Wie anders soll man sich dabei fühlen als eine Versagende.
Ich glaube, ich verstehe „Ideal“ ein wenig anders als du. Es liegt nicht notwendig ein unüberbrückbarer Graben zwischen mir und dem Ideal. Eigentlich ist da doch im Gegenteil eine Verbindung, ein Weg, auf dem ich dem Ideal immer ähnlicher werden kann. Sicher, man will eine andere werden als die, die man gerade jetzt ist. Aber dieses Verhältnis impliziert in meinen Augen kein notwendiges Versagen, sondern eher eine schrittweise Annäherung, auch wenn ich dabei vielleicht manchmal straucheln, vom Weg abkommen, die Orientierung verlieren kann. Das macht doch nichts. – Ein anderes Thema wäre, ob man überhaupt ein Ideal braucht. Ich sehe das zwiespältig. Einerseits fühlt man sich, wenn man sich mit einem Ideal vergleicht, nicht vollkommen, da gebe ich dir recht, und das ist schade; andererseits finde ich es nicht schlecht, ein Ziel für eine Entwicklung vor Augen zu haben. Vielleicht darf man das einfach nicht so streng sehen. Ein Ideal ist eine Orientierungshilfe, ein Wegweiser, mehr nicht. Es ist mein Ideal, ich habe es aufgestellt, also kann ich es auch ignorieren, wenn ich das möchte. Oder austauschen, wenn es sich als das falsche Ideal herausstellt.
Über die „Stoikerin“ lache ich –und kann sie allerdings überhaupt nicht einordnen. Daß Du von Deinem Ideal bisher unter diesem Begriff nicht gesprochen hast, ist nicht entscheidend. Nur was ich dazu assoziiere, die „Gleichmütigkeit“, das löst keinen Wiedererkennungseffekt aus. Ich hatte bisher angenommen, ein gewisser Gleichmut sei Deinem Wesen sowieso eingeschrieben, könne daher auch nicht zum „Ideal“ taugen, denn dem „Ideal“ ist ja eigen, ein „sollen“ zu sein, womit eine Differenz zum „ist“ hergestellt wird (zur „Stoikerin“, falls ich sie überhaupt richtig verstehe, fällt mir nur noch ein, daß sie möglicherweise beeinflusst war von der Erfordernis oder der vermeintlichen Erfordernis, als Ehefrau das emotionale Temperament des Ehemannes auszugleichen und nunja, darin nicht unterzugehen).
Ich fand die Erzählungen von Stoikern, die nichts umhauen kann, die in jeder Lebenslage gleichmütig, unerschütterlich und souverän bleiben, immer toll – so wollte ich auch sein. (Das hat mehr mit meiner Schüchternheit und Unsicherheit zu tun, die ich überwinden wollte, nichts mit dem etwas schwierigen Charakter meines Mannes.) Aber mittlerweile empfinde ich ein solches Wesen als einengend und starr. Oder vielleicht ist es richtiger so gesagt: Ich kann jetzt viel besser als früher akzeptieren, dass ich mich nicht in jeder Lebenslage so verhalten kann, wie ich es mir, das Ideal vor Augen, wünsche. Ich bin sehr gleichmütig, ja, aber ich bin es nicht immer. Und das ist auch gar nicht notwendig. Peinliche, unangenehme, anstrengende, langweilige, schöne Momente – warum sollte ich auf alle gleich reagieren?
Momente
Die Sehnsucht prägt weitgehend meine Wirklichkeit, und sie weist gleichzeitig auf meine Realität hin. Da ist ein Spalt. Nein, das ist nicht eingängiger und genau wie beim „Moment“ müsste ich richtigerweise sagen, die Sehnsucht bringt den Spalt zwischen Realität und Wirklichkeit überhaupt erst hervor.
Den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität, und wieso dazwischen ein Spalt ist, habe ich nicht verstanden. Könntest du das näher erläutern?
Bei einem Leben „im Moment“ müsste beides zusammenfallen, eins sein? Ist das nicht einigermaßen akademisch? Wer kann denn „im Moment leben“? Vielleicht wenige Za-Zen-Mönche, die nach jahrelanger Übung in diesen Zustand kommen, aber normal lebende Menschen? Da mein Eindruck ist, ich hätte mich verheddert, trete ich, gedanklich Distanz schaffend, einen Schritt zurück und frage, worum es mir geht? Ich möchte die Sehnsucht als mir und meinem Leben zugehörig empfinden können ... in der Erwartung, ich würde mich besser fühlen, täte ich das.
Gerade kommt mir der Verdacht, dass das vielleicht auch ein für dich falsches Ideal sein könnte? Ich habe es so beschrieben, so wie ich das Ideal der glücklich alleinlebenden Frau beschrieben habe, und beide Male erhoffst du dir davon für dich selbst eine positive Wirkung. Aber wir sind so verschieden, vielleicht taugt vieles von dem, was für mich gut ist, für dich gar nicht?
Zum Leben im Moment: Das ist mir schon immer einigermaßen vertraut gewesen, für mich ist das nicht akademisch. Nicht dass ich das durchgehend täte. Aber ich gucke oft so wenig über den Tellerrand meiner Alltäglichkeit hinaus, um es mal so auszudrücken, was ja auch eine Art von Im-Moment-Sein ist, wenn auch die eher unbewusste oder tumbe Variante. Wenn es dagegen nicht unbewusst abläuft, sondern ich es bemerke, dann sind es meist die unzählig vielen kleinen Glücksmomente des Tages, in die ich ganz eintauche. Eine intensive Kindheitserinnerung: Ich hocke im Sommer auf der Umrandung der Sandkiste und schnuppere immer wieder an meinen Knien oder meinen Armen, weil die sonnendurchtränkte Haut so wunderbar riecht. (Das mache ich manchmal heute noch. :-)) Damals muss ich so etwa 8 oder 9 Jahre alt gewesen sein.
Diese Momente wirklich als Kostbarkeit wertzuschätzen hat bei mir allerdings erst vor kurzem eingesetzt, genauer gesagt, als ich im Krankenhaus lag. In der zweiten Woche, als das alles nicht mehr ganz so bedrohlich war, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit dem Leben davonkomme, deutlich zugenommen hatte, lag ich in einem Zimmer im 6. Stock mit Blick nach Osten. Und jeden Morgen – noch bevor der Weckdienst kam, noch bevor meine Zimmergenossin aufwachte, noch bevor es auf dem Flur lebendig wurde – konnte ich die Sonne aufgehen sehen. Und ich dachte: Ja, ich habe in letzter Zeit einiges nicht so Schönes mitgemacht, und wie es mit mir weitergeht, weiß ich auch nicht so genau. Aber das ist jetzt nicht wichtig, denn JETZT ist DIESER Moment. Ich habe weder Bedauern (in Richtung Vergangenheit) noch Angst (in Richtung Zukunft), ich bin einfach nur glücklich, weil ich jetzt die Sonne aufgehen sehe.
Nun kann man sagen, dass das eine Ausnahmesituation gewesen ist, und das stimmt natürlich. Aber sie hat fortgewirkt. Ich habe das erst gar nicht so gemerkt, war sogar etwas verwundert, dass diese Ereignisse so wenig Spuren hinterlassen haben. Aber mittlerweile merke ich immer deutlicher, wie mein Verhältnis zum Leben sich unterschwellig doch verändert hat. Ich bin jetzt im „Bonusprogramm“ – auf diesen Begriff bin ich neulich gekommen :-) –, und alles, was jetzt noch geschieht, ist eine Zugabe. Und das fühlt sich tatsächlich wie die Zugaben nach einem Konzert an. Das Konzert ist zu Ende, es hat alles einigermaßen geklappt, die Anspannung lässt nach, und nun kann man ganz gelöst und ohne Erwartungsdruck noch ein, zwei Stücke spielen. Und wie in einem Konzert haben diese Zugaben einen ganz besonderen Zauber. Einerseits wird immer unwichtiger, WAS da gespielt wird, es ist einfach nur schön, noch ein wenig mehr zu hören. Andererseits kann ich diese Zugaben umso intensiver genießen, als ich weiß, dass gleich doch Schluss sein wird.
Aber das ist, wie gesagt, einer Ausnahmesituation geschuldet und deshalb nicht ohne Weiteres auf andere übertragbar.
Extreme
Oja, ich kann mich bestens in Abstoßung zu Dir entfalten. Das gesamte vergangene Jahr habe ich Leid, Unglück, Dunkelheit (das Negative) so offensiv und konzentriert vertreten können wie, ich glaube, noch nie zuvor. Wenn „Selbstverständlichkeit“ bedeutet, daß „alles so ist, wie es sein soll“, wie Du in Deinem vorletzten Brief geschrieben hattest, dann finde ich es schlüssig, daß Nicht-Selbstverständlichkeit das Gegenstück bildet und bedeutet, daß nichts ist, wie es sein soll. „Nichts“ ist ebenso umfassend wie „alles“ (eine weitere Ausführung zum „Unglück“).
Nun gut, wenn das so ist, dann lösche ich den vorherigen Abschnitt nicht wieder, wie ich es schon fast getan hätte, weil er mir dann doch als etwas too much erschienen war. :-)
Mir scheint, wir „kosten“ gerade beide unsere Extreme aus, du die negativen, ich die positiven. „Auskosten“ in Anführungszeichen, weil das bei dir ja eher schmerzhaft abläuft. Dennoch scheinst du auch so etwas wie Stolz daraus zu ziehen, dass du dich so kompromisslos zu deiner Negativität bekennen kannst. Ich glaube, Stolz ist hier nicht der richtige Ausdruck, aber mir fällt leider kein passenderer ein. Du wirst besser wissen, was ich hier gemeint haben könnte! :-)
B.
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