Brief 103 | Was heißt es "im Moment zu leben"?

Liebe B.,

ich habe Deinen Brief zerstückelt, die Fragmente zum Teil reichlich beschnitten und sie in neuer Anordnung wieder zusammengeklebt ... wundere Dich bitte nicht.

Mir fällt der Satz ein: Werden, wer man ist. Genau das hat sich bei mir ereignet und ereignet sich noch. Und das finde ich viel spannender und auch beglückender als eine Transformation. Und wenn ich lese, mit welch großer Entschiedenheit du plötzlich dein Sosein erkennst und versuchst es zu akzeptieren, dann scheint das bei dir ja ähnlich abzulaufen. Du lässt ein falsches Ideal hinter dir, weil du erkannt hast, dass es deinem Wesen überhaupt nicht entspricht. Deshalb auch die Erleichterung und Entlastung?

Man könnte in Abwandlung des Zitates vielleicht sagen: Hört auf, euch wie ein unfertiges Projekt zu behandeln. Jetzt, in diesem Moment, bist du vollkommen.        

Mir gefällt Deine pointierte Formulierung, denn ein „Ideal“ ist wohl das Gegenstück zur Vollkommenheit des Soseins in diesem Moment. Mit dem „Ideal“ stellt man den Anspruch, eine Andere zu sein als die, die man ist. Infolgedessen kann daraus nur resultieren, ständig Misserfolge zu erfahren, denn zwangsläufig erfüllt man die selbst gesetzten Ansprüche nicht. Wie anders soll man sich dabei fühlen als eine Versagende. Daher die Erleichterung. Die Bejahung des Soseins hingegen stiftet so etwas wie ein Einheitsgefühl mit sich selbst. Dieses „Sosein“ kann nun zum einen von uns selbst immer wieder verändert werden (Du: sondern mittlerweile kommt es mir mehr darauf an zu erkunden, wer ich alles bin und sein kann) und das „Sosein in diesem Moment“ schließt ein, daß es sich um beiläufige, flüchtige Regungen oder Verhaltensweisen handeln kann, die möglicherweise wenig vom wesenhaften Sosein geprägt sind ...

[..] Inzwischen neige ich zu der Ansicht, dass es gerade diese Un-Gewissheit ist, die einen Teil meines Wesens ausmacht. Und dieses Anerkennen ist auch für mich eine Erleichterung, im ganz wörtlichen Sinne. Es fühlt sich nicht wie ein Mangel an, sondern sehr leicht, schwebend. Ich muss mich gar nicht festlegen, ich muss kein festumrissener Charakter sein.

... oder eben auch um die Entdeckung, daß das wesenhafte „Sosein“ im Unbestimmbaren liegt.  

Du hattest in der letzten Zeit mehrfach den Vergleich mit den Pubertätsjahren herangezogen und das, was Du oben über die Unsicherheit, das Ungewisse, schreibst, die Du in den frühen Jahren des Erwachsenwerdens so intensiv hast geniessen können, lässt mich diese Verbindung ziehen. Wie auch bald schon nach dem Tod Deines Mannes Du von Deiner Neugierde an Dir selbst und dem, was kommen könnte, erzählt hattest. Es war darin ebenso die gespannte freudige Erwartung im und am Ungewissen enthalten. Damit ziehe ich interpretierend eine Kontinuitätslinie durch die Zeit, die natürlich nicht gezogen werden muß, weil wir es sind, die dies tun; um der biografischen Erzählung zum Beispiel ein wenig Festigkeit zu verleihen.                      

Bei mir könnte man es vielleicht das Ideal des Stoikers nennen, das ich nun hinter mir lasse, weil ich erkannt habe, dass es das für mich falsche Ideal ist [...]

Über die „Stoikerin“ lache ich –und kann sie allerdings überhaupt nicht einordnen. Daß Du von Deinem Ideal bisher unter diesem Begriff nicht gesprochen hast, ist nicht entscheidend. Nur was ich dazu assoziiere, die „Gleichmütigkeit“, das löst keinen Wiedererkennungseffekt aus. Ich hatte bisher angenommen, ein gewisser Gleichmut sei Deinem Wesen sowieso eingeschrieben, könne daher auch nicht zum „Ideal“ taugen, denn dem „Ideal“ ist ja eigen, ein „sollen“ zu sein, womit eine Differenz zum „ist“ hergestellt wird (zur „Stoikerin“, falls ich sie überhaupt richtig verstehe, fällt mir nur noch ein, daß sie möglicherweise beeinflusst war von der Erfordernis oder der vermeintlichen Erfordernis, als Ehefrau das emotionale Temperament des Ehemannes auszugleichen und nunja, darin nicht unterzugehen).  

Verunsicherung

Ich weiß nicht recht, ob ich das gemeint habe. Es ging mir um ein Thema,[...] Es ging in die Richtung, dass, während du dich in diversen Sorgen verstrickst, dein Leben einfach ganz normal und zwischenfalllos weiterläuft, was bei dir damals sowas wie ein Aha-Erlebnis ausgelöst hat.

Das ist großartig. Ich wusste, daß Du etwas anderes meinst als das, worauf ich antworte. Nur war mir das Geahnte derart verschwommen, daß ich sehr schnell aufgegeben habe, nach Klarheit zu suchen. Jetzt, da Du es schreibst, ist mir sofort klar, ja, das war das nur verschwommen Geahnte zu der Überlegung „wie leben wir trotz unserer Sehnsüchte oder mit unseren Sehnsüchten“?

Und nun weiß ich auch plötzlich, wie ich den „zwischenfallosen Verlauf“ verstehe (was ich damals nicht tat). Auf den „normalen“ Verlauf sehe ich als unbeteiligte Beobachterin, aus der 3. Person-Perspektive. „Frau G. steht am Morgen auf, sie tut dies und das und geht am Abend ins Bett“. Wenn ich auf diese Weise auf mich blicke und über mich spreche, dann merke ich, daß nicht ich das bin, sondern es die äußere Erscheinung einer x-beliebigen Person ist (die mein Aussehen hat). Den ereignisarmen Verlauf erlebe ich gar nicht. Dies entdeckend wird mir bewusst, daß Sorgen und Sehnsucht zwei Bestandteile meines Lebens sind, wenn es der zwischenfallose Verlauf nicht ist, und ich frage mich, ob es richtig ist, wenn ich in meinem letzten Brief schrieb, sie seien wie Fremdkörper (wir sprachen über die Sehnsucht, und ich möchte die Befürchtungen in diesem Brief auch lediglich randläufig hinzufügen, weil beide sich auf die Zukunft beziehen).      

[...] Nun führt dieser Gedanke [wir nehmen auch uns selbst nicht mit, wenn wir sterben] oft dazu, dass er mir nicht die Begrenzung meiner Zeit deutlich macht, sondern mich sozusagen in den Moment wirft. Irgendwann ist alles weg – was ist dann überhaupt noch wichtig? Da ist keine Vergangenheit mehr und keine Zukunft. Das Einzige, was ich habe, ist dieser jetzige Moment, deshalb liegt in ihm die ganze Fülle des Lebens, eine unendliche Kostbarkeit. Auch wenn das jetzt furchtbar pathetisch klingt, ist es eigentlich eine Binsenweisheit, die diverse Philosophen und Religionen schon seit Jahrtausenden verbreiten. Aber das wirklich selbst zu fühlen, das ist schon ein ganz eigener Zustand.

Mein Leben besteht ebenfalls aus unendlich vielen Momenten, von denen die Mehrzahl durch die Sehnsucht geprägt ist. Was heißt das? Die Sehnsucht bringt etwas, das jetzt, in diesem Moment, nicht ist, von dem man sich aber wünscht, es wäre jetzt oder zukünftig anwesend, ins Bewusstsein. Insofern bringt die Sehnsucht das Mögliche in den (gegenwärtigen) Moment und insofern gehört sie selbstverständlich zu mir, zu meinem Leben, „ich oder wir leben mit ihr“, wie Du schriebst. Ich überlege nun, warum ich das Empfinden, sie sei ein Fremdkörper, nicht korrigieren will und kann, obwohl mir ihre Zugehörigkeit jetzt klar geworden ist. Hat es etwas damit zu tun, daß sie sich schmerzhaft, unangenehm anfühlt? Oder hat es damit zu tun, daß die Sehnsucht zwar das Mögliche, das Erwünschte in den Moment hineinholt, ihn aber nicht ausfüllt? Der Moment, von dem Du sprichst, ist nur mein Hier und Jetzt; sind eigentlich Gedanken darin oder ist es „nur“ Hiersein? Das heißt, die Sehnsucht schafft so etwas wie eine Differenz zwischen dem, was tatsächlich in diesem Moment ist und dem, was nicht ist? Ja, ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. Ich formuliere es anders, eingängiger, für mich passender: Die Sehnsucht prägt weitgehend meine Wirklichkeit, und sie weist gleichzeitig auf meine Realität hin. Da ist ein Spalt. Nein, das ist nicht eingängiger und genau wie beim „Moment“ müsste ich richtigerweise sagen, die Sehnsucht bringt den Spalt zwischen Realität und Wirklichkeit überhaupt erst hervor. Bei einem Leben „im Moment“ müsste beides zusammenfallen, eins sein? Ist das nicht einigermaßen akademisch? Wer kann denn „im Moment leben“? Vielleicht wenige Za-Zen-Mönche, die nach jahrelanger Übung in diesen Zustand kommen, aber normal lebende Menschen? Das sind natürlich auch Fragen an Dich, und ich weiß nicht recht, ob es zu fummelig wird, wenn ich unterscheide in „im Moment“ leben und den „Moment als Kostbarkeit“ wahrnehmen, wie Du es oben ausdrückst. Da mein Eindruck ist, ich hätte mich verheddert, trete ich, gedanklich Distanz schaffend, einen Schritt zurück und frage, worum es mir geht? Ich möchte die Sehnsucht als mir und meinem Leben zugehörig empfinden können ... in der Erwartung, ich würde mich besser fühlen, täte ich das.          

So, ich hoffe, durch mein penetrantes Glücksgefasel habe ich dich einmal mehr in deinem Anderssein, deinem Sosein, wie du bist, bestärkt. :-) Wir gehen verschiedene Wege, aber wir gehen sie schon eine ganze Weile gemeinsam. Das ist schön.

Oja, ich kann mich bestens in Abstoßung zu Dir entfalten. Das gesamte vergangene Jahr habe ich Leid, Unglück, Dunkelheit (das Negative) so offensiv und konzentriert vertreten können wie, ich glaube, noch nie zuvor. Wenn „Selbstverständlichkeit“ bedeutet, daß „alles so ist, wie es sein soll“, wie Du in Deinem vorletzten Brief geschrieben hattest, dann finde ich es schlüssig, daß Nicht-Selbstverständlichkeit das Gegenstück bildet und bedeutet, daß nichts ist, wie es sein soll. „Nichts“ ist ebenso umfassend wie „alles“ (eine weitere Ausführung zum „Unglück“).        

F.

 

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