Brief 97 | Aneignung

Liebe B.,

Was hat bei dir diese Verschiebung vom liebenden, bergenden Vater zum willkürlichen Tyrannen bewirkt? Ich kann das nach dieser Beschreibung noch weniger nachvollziehen. Hatte sich das schon zu Lebzeiten deines Mannes so entwickelt? Oder hat Gott dich erst nach seinem Tod, also nach dem Wegfall der realen Liebe, plötzlich wieder „interessiert“? Aber warum hat er sich so verändert? (Da Gott für mich ein imaginiertes Wesen ist, müsste meine Frage eigentlich lauten: Warum hast du dich so verändert? Was ist passiert?) Etwas später schreibst du, der „gute Vater“ habe dich verlassen. Aber das ist ja keine Erklärung, sondern eher eine Beschreibung, die du noch dazu in Frageform gestellt hast.

Bist Du einverstanden, wenn wir diese „Angelegenheit“ unabgeschlossen und ungelöst zur Seite packen? Der reale Vater, Gottvater und die Männer sind, so wie ich es verstehe, in meiner Seele und in meinem Denken engstens miteinander verknüpft. Der reale Vater ist gestorben, als ich 9 Jahre alt war, Gottvater ist eine Projektion und Projektionsfläche, und in meiner gegenwärtigen Realität gibt es keinen Mann für mich. Das bedeutet, ich fühle mich, wie man? so sagt, „gottverlassen“ alleine, das Kind und die Frau.      

Für mich hatte die Zeit nach dem Tod meines Mannes übrigens sehr viel Ähnlichkeit mit der Pubertät. Wieder löste sich alles auf, wieder befand ich mich an der Schwelle zu etwas Neuem, und wieder war da diese Faszination in der Verzweiflung. Anfangs hatte ich mit diesem Gefühl enorme Schwierigkeiten, weil ich es irgendwie „unschicklich“ fand. Erst als mir diese Parallele zur Pubertät auffiel, konnte ich es einigermaßen akzeptieren.

Daß ich mich bzw. mein Lebensglück oder Lebensunglück abhängig mache von wie auch immer gearteten männlichen Wesen, ganz gegenteilig zu Deinem Streben nach Unabhängigkeit, der Neugierde auf das Neue, der Erprobung der eigenen Kräfte, ja, das ist wohl so. Und obwohl ich Dein Erleben gut nachvollziehen kann, weil es immerhin auch in meinem Leben kurze Phasen der Entdeckerfreude gegeben hat, so liegt für mich kein Anreiz darin.      

Aneignung (oder objektivierte Innenwelt und introjizierte Außenwelt)

„Inneres Objekt“? Von diesem Konzept habe ich noch nie gehört. Kannst du das etwas näher erläutern? Im Internet habe ich kaum etwas dazu gefunden. Spontan wehre ich mich gegen die Vorstellung, mich selbst in Subjekt und Objekt aufteilen zu sollen. Gelungenes Verinnerlichen? Schaudernd spüre ich das Alien-Monster, das sich in mir einnistet. Vermutlich versteht man darunter aber ganz etwas anderes, als ich mir jetzt vorstelle.

Wenn eine erwachsene Person sich zum Beispiel ihre angreifende, in positivem Sinne „aggressive“ Energie als einen „Tiger“ vorstellt oder bildlich vergegenständlicht, dann objektiviert sie ein eigenes Verhalten (in einem äußeren Gegenstand), um es zu veranschaulichen; sich mit ihm vertrauter zu machen, falls es ein nicht besonders intensiv ausgeprägtes Verhalten ist oder um sich mit ihm anzufreunden, falls es intensiv ist und sich eher störend auswirkt. Dies nur vorweg zu Deiner spontanen Abneigung und hier in der Umkehrung, d.h. der objektivierten Innenwelt. Vergegenständlichung –in beide Richtungen- bedeutet ja keineswegs, das Denken eines „Subjekts“ oder einer Person zu durchlöchern, indem „fremde“ Objekte ins „Eigene“ gesetzt werden, mir gefällt der Ausdruck von der „introjizierten Außenwelt“ oder auch Aneignung.  

Die Objektbeziehungstheorie gehört insgesamt in den Rahmen des Freud’schen Instanzenmodells von „Über-Ich“, „Ich“ und „Es“. Und das kann man von vorne bis hinten, d.h. aus diversen Gründen infragestellen. Den Aspekt des „guten inneren Objekts“ finde ich gut geeignet zum Verstehen, warum manche Menschen selbstbewusst im Sinne von selbstsicher und manche Menschen nicht selbstbewusst sind. Einfach beschrieben, wird das Verhalten ihrer Bezugspersonen von Kleinkindern „internalisiert“, d.h. sie machen das Verhalten –meistens das der Eltern- zu eigenen Anteilen ihrer Person (natürlich nicht bewusst und willentlich). Die „gute“ Mutter gibt ihrem Kind zu erkennen, daß sie es in allen seinen Lebensäußerungen liebt und entzückend findet. Die erwachsene Person, wenn dieses Verhalten zu einem guten inneren Objekt geworden ist, wird sich in all ihren Lebensäußerungen entzückend finden und lieben. Damit es sich nicht zur Satire wird, die erwachsene Person wird sich grundsätzlich in allen ihren Lebensäußerungen bejahen. „Ich brauche nur so zu sein, wie ich bin und bin geliebt“. Sieht eine Mutter ihr Kind hingegen mit mißbilligend ablehnenden Augen an, so wird das Kind diesen „bösen“ Blick „introjizieren“, d.h. der erwachsene Mensch wird sich selbst mit diesem ablehnenden Blick betrachten.

Ich verlinke Dir das „still face“-Experiment, das den Entwicklungspsychologen E. Tronick berühmt gemacht hat, falls Du es nicht kennen solltest. Es demonstriert die Grausamkeit, die es für ein Kleinkind bedeutet, wenn die Mutter nicht kommuniziert. Man kann sich leicht vorstellen, wie es sein muß, wenn die Mutter ablehnend kommuniziert. Ich möchte damit nicht die Objektbeziehungstheorie stützen, weil man, wie ich denke, derartige Erlebnisse von Kindern mit ihren Eltern auch unter „Erfahrung“ verbuchen könnte, die sich einprägt. Es geht mir hier nur um die offen-sichtliche Mächtigkeit der Beziehungsperson.

Wenn ich meine Person zurückblickend betrachte, dann ist sie stark von dem fehlenden „guten inneren Objekt“ gezeichnet. Interessant finde ich in dieser Hinsicht auch die Persistenz einer solchen frühen Prägung, die sich trotz gegenteiliger Erfahrungen und Ausgleichsbeziehungen behauptet. Ich habe es früher öfter in unterschiedlichen Varianten als Rückmeldung bekommen, ich sei wie ein „Eimer mit einem Loch“, d.h. man sagt Anerkennendes zu mir und einen Tag später ist dieses Anerkennende durchgerauscht, und ich benötige schon wieder Bestärkung von Außen.

Er-leiden und Er-dulden        

[...] Aber davon abgesehen frage ich mich, ob es eine tiefere Bedeutung für unser jeweiliges Weltverständnis hat, dass wir es gerade umgekehrt sehen. Auf den ersten Blick nicht. Nur beim Wort „Er-leiden“ bin ich stutzig geworden. Mein Verständnis von Passivität hat nichts mit Leiden zu tun. Die Welt, das Leben, das Schicksal sind mir nicht feindlich gesonnen, ich leide nicht daran; was mir zufällt, ist einfach, wie es ist, auch wenn das manchmal leidvoll ist. Vielleicht verwende ich das Wort falsch? Die Etymologie finde ich jedenfalls ein wenig verwirrend. Da ist die Rede von Erleiden und Erdulden (was für mich zweierlei Dinge sind!) sowie von Leidenschaft. (Auch dieses Wort ist ja mehrdeutig.) In meinem Verständnis von Passivität verbirgt sich jedenfalls sehr viel aktive Weltbewältigung.

Mich treibt Deine Selbstbeschreibung als „passiv“ dermaßen um, daß ich hier noch einmal darauf eingehen möchte. Falls Du inzwischen von meiner Penetranz genervt bist, so kann ich das nachvollziehen -und sage es gerne direkt :-))). Wobei es allmählich auch meinerseits nötig wäre zu überlegen, was mich eigentlich so stark tangiert (ich habe es allerdings nur flüchtig und ergebnislos überlegt).

Oben sprichst Du von „sehr viel aktive[r] Weltbewältigung“ und dieser Formulierung kann ich nach allem, was Du mir von Dir erzählt hast, voll und ganz zustimmen. Das Passive (in Deiner Haltung) bezöge sich somit lediglich auf den Willen und die Willensstärke. Ich möchte dazu eine Passage aus Deinem Brief 92 zitieren:

Das liegt vielleicht an meiner eher passiven Natur, die ja schon Thema war: Ich lasse die Dinge auf mich zukommen und re-agiere oft statt zu agieren. Und in meiner Reaktion fühle ich mich ziemlich frei. Vielleicht ist das anders, wenn man ein eher aktiver Mensch ist und dadurch häufiger die Erfahrung macht, dass die Dinge nicht so laufen, wie man das geplant hat, insofern also immer wieder an die Grenzen seiner Macht gestoßen wird. Da ich nichts Bestimmtes will, löst es in mir kein Ohnmachtsgefühl aus, wenn etwas anders läuft als erwartet. (Das ist jetzt ziemlich holzschnittartig, denn natürlich will auch ich dieses oder jenes (wenn auch, wie ich immer wieder feststelle, anscheinend etwas weniger als manch andere*r); aber vielleicht hilft es zum besseren Verständnis.)

Ich benutze im Folgenden Deine Begrifflichkeit. „Aktive“ Menschen er-leiden unter Umständen häufiger und intensiver, weil sie mehr wollen und Manches oder Vieles stärker wollen. Ich male mir nun einen „aktiven“ Menschen aus, Deiner Umschreibung entsprechend, der also der Wahrscheinlichkeit nach häufig dies und jenes er-leidet und der aber dem Reaktionsmuster des „Er-Duldens“ folgt. Ist das ein aktiver Mensch aus Deiner Sicht? Wenn ich Deine Formulierung aus dem letzten Brief nehme, dann müsste man über eine so geartete Person sagen „in meinem Verständnis von Aktivität verbirgt sich sehr viel passive Weltbewältigung“.  

Deine Selbstbeschreibung als „passiv“, so würde ich es zusammenfassen, bezieht sich auf den Willen, das Wollen; folgen die Zu-Fälle Deinem Willen nicht, dann ist für Dich die aktive Bewältigungsstrategie charakteristisch.

Vielleicht könnte man anstelle von „Willen“, um die Sache konkreter zu fassen, auch von "Zielen" sprechen. Mir fiele es unter dem Ausdruck „Ziele“ leichter mich einzuordnen. Kleine überschaubare Ziele hatte ich schon (einen neuen Arbeitsplatz suchen, wenn der bestehende mir nicht mehr gefiel oder gekündigt wurde; wieder einmal einen neuen Lernbereich verwirklichen). Vieles habe ich im Bereich des Möglichen belassen (einmal einen Sommer im Süden am Meer verbringen; jahrelang die Idee, eine neue Wohnung zu suchen, die in einer Gegend liegt, die ich schön finde; vertraute Freunde und Freundinnen finden; eine wissenschaftliche Arbeit „tun“). Wenn ich „Willen“ durch "Ziele" ersetze und wenn ich die Ziele hinzunehme, die ich im Bereich des Möglichen ließ, dann konnte es wenig geben, das ich „er-litt“, weil mir wenig in die Quere hat kommen können, das mich am Erreichen meiner Ziele hätte hindern können. In dieser Hinsicht also sehe ich mich auch als einen passiven Menschen. Die wenigen Ereignisse, die ein Ziel unerreichbar machten, waren allerdings stärker vom "Er-dulden" getönt als bei Dir. Den Grund dafür sehe ich, und damit knüpfe ich an den mittleren Teil meines Briefes an, in einer ausgeprägten Aneignung des ablehnenden "inneren Objekts".                                       

F.

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