Liebe F.,
Ich lache, weil Du mit Deiner Frage ins „Herz“ (oder eines der „Herz“-Stücke) der „Väter“-Geschichte triffst. In der Pubertät habe ich mich nämlich Gottvater das erste Mal bewusst zugewandt! Im Alter zwischen 13 und 19, in der Zeit der Verwirrung, in der ich mich Niemandem anvertrauen wollte (oder konnte), ist Gott zu meinem Vater geworden, der mich geschützt und unterstützt hat. Er war der mich liebende Vater. Ich entdeckte mich als eigenständigen Menschen und ging eigene Wege, die oft –aus meiner Sicht- misslangen, mich also verunsicherten, und in diesem Hin und Her hatte ich einen sicheren Orientierungspunkt in Gottvater. „Es ist richtig“ hat er mir zugesprochen. Ist es nicht nur konsequent, daß mich in dem Moment, als mich ein –realer- Mann liebte, Gottvater nicht mehr interessierte?! Von einem zum anderen Tag war mir Gottvater egal. Ich lache ein zweites Mal, weil ich mir denke, die „genossene“ Verunsicherung, die Du wunderschön beschrieben hast, sie scheint für mich nicht zu taugen.
Was hat bei dir diese Verschiebung vom liebenden, bergenden Vater zum willkürlichen Tyrannen bewirkt? Ich kann das nach dieser Beschreibung noch weniger nachvollziehen. Hatte sich das schon zu Lebzeiten deines Mannes so entwickelt? Oder hat Gott dich erst nach seinem Tod, also nach dem Wegfall der realen Liebe, plötzlich wieder „interessiert“? Aber warum hat er sich so verändert? (Da Gott für mich ein imaginiertes Wesen ist, müsste meine Fage eigentlich lauten: Warum hast du dich so verändert? Was ist passiert?) Etwas später schreibst du, der „gute Vater“ habe dich verlassen. Aber das ist ja keine Erklärung, sondern eher eine Beschreibung, die du noch dazu in Frageform gestellt hast.
Für mich hatte die Zeit nach dem Tod meines Mannes übrigens sehr viel Ähnlichkeit mit der Pubertät. Wieder löste sich alles auf, wieder befand ich mich an der Schwelle zu etwas Neuem, und wieder war da diese Faszination in der Verzweiflung. Anfangs hatte ich mit diesem Gefühl enorme Schwierigkeiten, weil ich es irgendwie „unschicklich“ fand. Erst als mir diese Parallele zur Pubertät auffiel, konnte ich es einigermaßen akzeptieren.
Mir kommt an dieser Stelle das „gute innere Objekt“, wie es in der psychoanalytischen Theorie genannt wird, in den Sinn. Bei mir ist es schwächer ausgebildet als bei Dir, d.h. den Halt in sich selber zu haben, das affirmierende „das bin ich“, „ich bin in Ordnung“, es ist wenig ausgeprägt, sodaß ich die positive Bestärkung durch andere Menschen brauche (mehr als Du). Deine Beschreibung der Pubertätsphase ist, wie ich finde, ein ausgezeichnetes Beispiel für ein gelungenes Verinnerlichen des „gutes Objekts“. Wenn man Verwirrung, Unsicherheit genießen kann, wenn Verzweiflung das Bewusstsein der Lebendigkeit intensiviert, dann setzt das ein erhebliches Vertrauen in die „Richtigkeit“ des eigenen „Ich“ oder der eigenen Person voraus.
„Inneres Objekt“? Von diesem Konzept habe ich noch nie gehört. Kannst du das etwas näher erläutern? Im Internet habe ich kaum etwas dazu gefunden. Spontan wehre ich mich gegen die Vorstellung, mich selbst in Subjekt und Objekt aufteilen zu sollen. Gelungenes Verinnerlichen? Schaudernd spüre ich das Alien-Monster, das sich in mir einnistet. Vermutlich versteht man darunter aber ganz etwas anderes, als ich mir jetzt vorstelle.
Meine dauerhafte Irritation, sobald Du Dich als „passiv“ beschreibst, werde ich heute einmal anders auflösen, da ich meine verstanden zu haben, was Du mit „passiv“ meinst. Mir kommt ein Bild vor Augen: Der schmale Baum bewegt sich im Wind. Je nach Windstärke und Windrichtung biegt er sich mehr oder weniger und neigt sich entsprechend der Richtung des Windes. Er „rea-giert“, so wie Du Dich beschrieben hattest. Der dicke Baum wäre demnach der aktive Baum, den der Wille des Bestehens charakterisiert. Er ist nicht biegsam, er neigt sich nicht, sondern widersteht. Wenn ich meinem Wortempfinden folge, dann handelt es sich bei dem schmalen Baum um den aktiven, weil er sich geschickt und beweglich den jeweiligen Windverhältnissen anpasst. Er wird nicht –passiv verharrend- gedrückt, sondern lässt sich im Zusammenspiel mit dem Wind neigen und wieder aufrichten und so immer fort. Der dicke Baum dagegen merkt eine lange Zeit sowieso nichts, weil er auf leichte Luftzüge, eine schwache Windgeschwindigkeit gar nicht reagiert. Erst bei Windstärken, die sein Aufrechtstehen bedrohen, sammelt er seine Kraft und stemmt sich gegen den Wind. Das scheint mir die passive Haltung zu sein. Ich löse mein Erstaunen also auf, indem ich von meinem Wortverständnis, treffender noch finde ich Wortempfinden, ausgehe, daß Bewegung und Beweglichkeit für mich Aktivität bedeuten, während ich die Passivität auf der Seite des Beharrens sehe, „passiv“ bedeutet aus meiner Sicht dem Modus des Er- leidens zu folgen . „Passiv verharren“ und „aktiv bewegen“ sind für mich zusammengehörende Einheiten.
Ja, ich kann deine umgekehrten Zuschreibungen nachvollziehen, auch wenn sie meiner Meinung nach nicht ganz schlüssig sind. Dein „aktiver“, beweglicher Baum lässt sich bewegen (Passiv), während sich dein „passiver“ dicker Baum stemmt (Aktiv). Aber davon abgesehen frage ich mich, ob es eine tiefere Bedeutung für unser jeweiliges Weltverständnis hat, dass wir es gerade umgekehrt sehen. Auf den ersten Blick nicht. Nur beim Wort „Er-leiden“ bin ich stutzig geworden. Mein Verständnis von Passivität hat nichts mit Leiden zu tun. Die Welt, das Leben, das Schicksal sind mir nicht feindlich gesonnen, ich leide nicht daran; was mir zufällt, ist einfach, wie es ist, auch wenn das manchmal leidvoll ist. Vielleicht verwende ich das Wort falsch? Die Etymologie finde ich jedenfalls ein wenig verwirrend. Da ist die Rede von Erleiden und Erdulden (was für mich zweierlei Dinge sind!) sowie von Leidenschaft. (Auch dieses Wort ist ja mehrdeutig.) In meinem Verständnis von Passivität verbirgt sich jedenfalls sehr viel aktive Weltbewältigung.
Die Gefühle, die Du aufzählst, würde ich als Gefühle im weiteren Sinne bezeichnen. Sie sind weniger auf „etwas“ gerichtet als die Gefühle im engeren Sinne. Meine Theorie und auch Erfahrung geht dahin, daß sich hinter der Niedergeschlagenheit, der Unsicherheit, dem Weltekel meistens konkretere Gefühle wie „Scham“, „Kränkung“, „Empörung“ verbergen, die oft durch winzige Episoden ausgelöst werden, die man für nicht so wichtig erachtet oder erachten will. Die Gereiztheit sondere ich aus, weil sie auch mich nicht wohl dosiert häufig befällt. Ich hatte sie in meiner Liste nicht aufgeführt, weil sie mir gar nicht einfiel. Außerdem würde ich sie zu den Gefühlen im weiteren Sinne zählen, was bedeutet, daß dahinter noch Präziseres steht. Es ist einem „alles zuviel“, man möchte nur „Ruhe“ haben.
Die Theorie von den präzise bestimmbaren Mikrogefühlen als Grundlage für unspezifischere Gefühle finde ich interessant. Und hier erkenne ich mich auch wieder. Ich hätte diese Mikrologien nur nicht als Gefühle bezeichnet. Sie sind eher das, was ich Auslöser genannt hatte. Ich habe manchmal über Stunden latent schlechte Laune, und irgendwann, wenn mir das bewusst wird, frage ich mich: „Woher kommt die?“ Ich bin mir ziemlich sicher, dass es dafür einen Auslöser gegeben hat, auch wenn ich ihn gar nicht besonders bemerkt habe und mich schon gar nicht mehr daran erinnern kann. Aber wenn ich lange genug darüber nachdenke, dann fällt mir irgendwann eine winzige Begebenheit ein, die mir irgendwie „gegen den Strich“ ging, und ich weiß spontan: Ja genau, das war es. Oft (nicht immer oder nicht immer sofort) löst die schlechte Laune sich dadurch auf. Ich sehe, wie banal, wie unwichtig dieses Ereignis gewesen ist, wie wenig es meinen „Kern“ berührt. Ich bewege mich da aber, so scheint es mir, mehr auf der Ereignis- als auf der Gefühlsebene, auch wenn das Ereignis natürlich mit negativen Gefühlen verbunden gewesen ist. – Das gibt es natürlich auch in die umgekehrte Richtung: Ich laufe den ganzen Tag mit einem Glücksgefühl durch die Gegend und weiß gar nicht so recht, woher das kommt, bis mir irgendwann eine winzige Begebenheit einfällt, die der Auslöser gewesen ist.
So, heute mal ein Brief ohne Zwischenüberschriften. Keine Ahnung, wieso, aber sie schienen mir nicht notwendig zu sein. :-)
B.
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