Brief 95 | Das "gute innere Objekt"

Liebe B.,

Vaterlos

Eine Assoziation, die dir jetzt vielleicht überraschend vorkommt: Kannst du dich daran erinnern, wie du dich zur Zeit der Pubertät gefühlt hast? Ich komme darauf, weil auf die Phase des Eltern-Kind-Verhältnisses ja normalerweise eine Phase der Ablösung folgt, in der man viel an Halt verliert, ohne gleich neuen zu haben. Es erwartet dich also, falls du dich aus der Abhängigkeit von diesem Gottvater lösen willst, eventuell so etwas Ähnliches wie die Pubertät. Ich habe diese Phase damals sehr intensiv wahrgenommen. Es findet ja nicht nur eine Ablösung, sondern auch eine Auflösung statt. Eine Auflösung aller Sicherheiten, aller Gewissheiten, ein gähnendes Loch, ohne dass da zu Anfang etwas Neues wäre, das einen auffängt. Eine ziellose Suche, ein Sehnen, Ängste, Unsicherheit, ein sich auftuendes Universum der Möglichkeiten … so viel Verwirrung! Ich habe das unglaublich genossen – manchmal verzweifelt, aber selbst diese Verzweiflung trug zur Faszination bei, die ich angesichts der Tatsache verspürte, dass ich LEBTE. Ich tauchte aus dem Meer des Selbstverständlichen auf und wurde mir meiner selbst und der Welt bewusst. Oder um das Bibelbild zu verwenden: Ich aß vom Baum der Erkenntnis, und fortan konnte das Paradies mir gestohlen bleiben. :-)

Ich lache, weil Du mit Deiner Frage ins „Herz“ (oder eines der „Herz“-Stücke) der „Väter“-Geschichte triffst. In der Pubertät habe ich mich nämlich Gottvater das erste Mal bewusst zugewandt! Im Alter zwischen 13 und 19, in der Zeit der Verwirrung, in der ich mich Niemandem anvertrauen wollte (oder konnte), ist Gott zu meinem Vater geworden, der mich geschützt und unterstützt hat. Er war der mich liebende Vater. Ich entdeckte mich als eigenständigen Menschen und ging eigene Wege, die oft –aus meiner Sicht- misslangen, mich also verunsicherten, und in diesem Hin und Her hatte ich einen sicheren Orientierungspunkt in Gottvater. „Es ist richtig“ hat er mir zugesprochen. Ist es nicht nur konsequent, daß mich in dem Moment, als mich ein –realer- Mann liebte, Gottvater nicht mehr interessierte?! Von einem zum anderen Tag war mir Gottvater egal. Ich lache ein zweites Mal, weil ich mir denke, die „genossene“ Verunsicherung, die Du wunderschön beschrieben hast, sie scheint für mich nicht zu taugen.

Was mich also interessieren würde (falls du dich überhaupt daran erinnern kannst): Wie hast du diese Zeit empfunden? Hat sie dir Angst gemacht und du bist deswegen lieber im Eltern-Kind-Verhältnis geblieben? Oder hast du auch so etwas wie Aufbruchstimmung gespürt, bist aber letztlich doch davor zurückgeschreckt, wirklich den Schritt nach draußen zu tun? Oder hast du diesen Schritt nach draußen zwar getan, aber was du dort gefunden hast, war so kalt oder unwirtlich oder was auch immer, dass du dich nach den alten Verhältnissen zurückgesehnt hast? Oder ganz was anderes, auf das ich jetzt nicht komme? Ich frage, weil ich versuche zu verstehen, warum jemand sein Leben lang ein beängstigendes Verhältnis aufrechterhält, obwohl die äußeren Umstände das gar nicht erzwingen, mir das aber nicht recht gelingen will.

Habe ich die Frage nicht oben schon beantwortet? Halbwegs - wenn ich an die Zeit zurückdenke, dann bin ich hin- und hergesprungen. Schritte nach draußen (Reisen, Freundinnen, Literatur, d.h. die Entwicklung eigener Weltsichten) und immer wieder zurück ins Haus der Mutter, außerdem immer wieder der imaginierte Vater als Trost und Schutz (auch gegen die Mutter) und gelungene und misslungene Versuche, draußen auf Menschen zu treffen, die mir ein bisschen Vater- und Mutterersatz sein konnten.

Mir kommt an dieser Stelle das „gute innere Objekt“, wie es in der psychoanalytischen Theorie genannt wird, in den Sinn. Bei mir ist es schwächer ausgebildet als bei Dir, d.h. den Halt in sich selber zu haben, das affirmierende „das bin ich“, „ich bin in Ordnung“, es ist wenig ausgeprägt, sodaß ich die positive Bestärkung durch andere Menschen brauche (mehr als Du). Deine Beschreibung der Pubertätsphase ist, wie ich finde, ein ausgezeichnetes Beispiel für ein gelungenes Verinnerlichen des „gutes Objekts“. Wenn man Verwirrung, Unsicherheit genießen kann, wenn Verzweiflung das Bewusstsein der Lebendigkeit intensiviert, dann setzt das ein erhebliches Vertrauen in die „Richtigkeit“ des eigenen „Ich“ oder der eigenen Person voraus.        

Nachtrag: Eben, kurz bevor ich diesen Brief abschicken wollte, fiel mir ein, dass du ja gar nicht jemanden suchst, an den du dich wegen Zuspruch wenden kannst, sondern wegen (An-)Klage. Das ändert die Sache natürlich. Hilfe und Trost können unsere Mitmenschen geben; aber man kann ihnen nicht die grundlegende Verantwortung für die schiefgehenden oder schmerzhaften Anteile des Lebens geben und gar von ihnen erwarten, dass sie das alles wieder in Ordnung bringen oder zumindest einen Ausgleich schaffen.

Ja, das hatte ich so klar bisher nicht gesehen, und es ist richtig. Nur scheint es mir mit den Pubertätsjahren nicht zusammenzupassen? Damals ging es um die Funktion des Zuspruches und des Trostes und gegenwärtig geht es um die Funktion, jemanden verantwortlich machen zu können für mein Leiden. Damals war es der mich liebende Vater und jetzt ist es der mich drangsalierende Vater? In einer anderen, etwas abgemilderten Variante, die sich besser mit der frühen Zeit vereinbaren lässt, hat der gute Vater mich verlassen.              

Nochmals Passivität und Aktivität

[...] belustigt es mich vor allem, dass ausgerechnet ich, die sich als eher passiv empfindet, hier die Seite der Bewegung, des Tuns, des Prozesshaften repräsentiert. :-) Ein schönes Beispiel für die dialektische Einheit der Gegensätze (oder für Yin und Yang, wem das lieber ist).

Meine dauerhafte Irritation, sobald Du Dich als „passiv“ beschreibst, werde ich heute einmal anders auflösen, da ich meine verstanden zu haben, was Du mit „passiv“ meinst. Mir kommt ein Bild vor Augen: Der schmale Baum bewegt sich im Wind. Je nach Windstärke und Windrichtung biegt er sich mehr oder weniger und neigt sich entsprechend der Richtung des Windes. Er „rea-giert“, so wie Du Dich beschrieben hattest. Der dicke Baum wäre demnach der aktive Baum, den der Wille des Bestehens charakterisiert. Er ist nicht biegsam, er neigt sich nicht, sondern widersteht. Wenn ich meinem Wortempfinden folge, dann handelt es sich bei dem schmalen Baum um den aktiven, weil er sich geschickt und beweglich den jeweiligen Windverhältnissen anpasst. Er wird nicht –passiv verharrend- gedrückt, sondern lässt sich im Zusammenspiel mit dem Wind neigen und wieder aufrichten und so immer fort. Der dicke Baum dagegen merkt eine lange Zeit sowieso nichts, weil er auf leichte Luftzüge, eine schwache Windgeschwindigkeit gar nicht reagiert. Erst bei Windstärken, die sein Aufrechtstehen bedrohen, sammelt er seine Kraft und stemmt sich gegen den Wind. Das scheint mir die passive Haltung zu sein. Ich löse mein Erstaunen also auf, indem ich von meinem Wortverständnis, treffender noch finde ich Wortempfinden, ausgehe, daß Bewegung und Beweglichkeit für mich Aktivität bedeuten, während ich die Passivität auf der Seite des Beharrens sehe, „passiv“ bedeutet aus meiner Sicht dem Modus des Er- leidens zu folgen . „Passiv verharren“ und „aktiv bewegen“ sind für mich zusammengehörende Einheiten. Meine Überlegungen zu Deiner Selbstbeschreibung als „passiv“ hatte ich schon geschrieben, bevor ich in Deinem Brief weiterlas. Ich zitiere die beiden Abschnitte, die sich, wie ich finde, prächtig in mein Baumbild einfügen ... ich sage wohl besser, das Baumbild, das meines ist, fügt sich bestens in Dein Selbstbild ein.  

Kräfte passt schon. Aber wichtiger als die Stärke der wirkenden Kräfte ist mir, dass es sich um ein Wechselspiel handelt, kein Gegenspiel.    

Wenn ich so darüber nachdenke, kommt es mir plötzlich ganz natürlich vor, dass ich schon so lange Tai-Chi praktiziere. Es entspricht so sehr meinem Wesen! Man kämpft nicht aggressiv, sondern passiv, reagiert mehr, als dass man agiert, ist aufmerksam, stellt sich auf das (imaginäre) Gegenüber ein, nimmt seine Kraft auf und neutralisiert sie mehr, als dass man zurückschlägt … Wenn man darin Meister ist (wovon ich noch meilenweit entfernt bin, sowohl beim Tai-Chi als auch im Leben), dann ist man fast anstrengungslos stark und unbesiegbar.

***

(Mein Gedankengang war folgender: Natürlich benötige ich für Handlungsfähigkeit auch eine gewisse Handlungsmacht, sonst bewirken meine Handlungen ja nichts. Fähigkeit und Macht sind nach meinem Gefühl Begriffe, die ineinander übergehen und an den Berührungspunkten nicht ganz klar voneinander zu trennen sind. Man sagt ja zum Beispiel, dass man einer Sache mächtig ist, und meint damit zunächst einmal kein Herrschaftsverhältnis, sondern benutzt das Wort mehr im Sinne von machen = tun: ich kann das. Aber der nächste Schritt ist dann schon, dass man einen Vorgang, eine Fertigkeit beherrscht. Und da gebe ich dir Recht: Wortwahl ist nicht zufällig (deshalb finde ich Etymologie so spannend!). Wenn ich nach einer Zeit der Übung das Radfahren endlich beherrsche, dann macht das Fahrrad, was ich will. Ich beherrsche die Tätigkeit, aber auch das Gerät (oder einen Vorgang oder einen Zustand oder was weiß ich, je nachdem, um was es geht).

Ja, danke, nun verstehe ich.

Gefühle

Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Neid … es überrascht mich jetzt doch ein wenig, wie unvertraut mir diese Worte bzw. diese Gefühle sind. Nicht, dass ich sie noch nie verspürt hätte; aber das kommt anscheinend so selten vor (oder wird es mir nur so selten bewusst?), dass beim Lesen nichts bei mir ausgelöst wird, kein Wiedererkennungseffekt.

... und mich überrascht es sehr, daß Dich diese vier Gefühle so unberührt lassen. Wenn ich es allerdings näher bedenke, dann müssen bei keineswegs allen Menschen diese Gefühle ausgesprägt sein, eine „tragende Rolle“ spielen.        

Aus der Palette der „negativen“ Gefühle (schon diese Anführungszeichen zeigen, dass ich sie eigentlich gar nicht uneingeschränkt als negativ empfinde – für mich sind sie zum jeweiligen Zeitpunkt sinnvoll, wenn auch anstrengend oder schmerzhaft) würde ich eher wählen: Unsicherheit, Niedergeschlagenheit, Ekel (im Sinne von Weltekel, falls du mit diesem Wort etwas anfangen kannst), Überreizung/Gereiztheit/Genervtheit. Das ist dann im akuten Fall gar nicht unbedingt „wohldosiert“, aber es sind schon von sich aus nicht so überflutende Gefühle wie deine Beispiele. Kann ich sie kontrollieren? Jein. Das hängt u.a. davon ab, wie schnell sie mir bewusst werden. Solange sie unreflektiert sind, beträgt die Dosis 100 %. :-) Ich bin im Laufe der Jahre aber immer geübter darin geworden, relativ bald etwas Distanz herzustellen, sodass ich mich dann fragen kann: „Was will dieses Gefühl mir sagen? Anscheinend ist gerade irgendetwas nicht in Ordnung. Was kann ich tun, um das zu ändern?“

Die Gefühle, die Du aufzählst, würde ich als Gefühle im weiteren Sinne bezeichnen. Sie sind weniger auf „etwas“ gerichtet als die Gefühle im engeren Sinne. Meine Theorie und auch Erfahrung geht dahin, daß sich hinter der Niedergeschlagenheit, der Unsicherheit, dem Weltekel meistens konkretere Gefühle wie „Scham“, „Kränkung“, „Empörung“ verbergen, die oft durch winzige Episoden ausgelöst werden, die man für nicht so wichtig erachtet oder erachten will. Die Gereiztheit sondere ich aus, weil sie auch mich nicht wohl dosiert häufig befällt. Ich hatte sie in meiner Liste nicht aufgeführt, weil sie mir gar nicht einfiel. Außerdem würde ich sie zu den Gefühlen im weiteren Sinne zählen, was bedeutet, daß dahinter noch Präziseres steht. Es ist einem „alles zuviel“, man möchte nur „Ruhe“ haben. Mir kommt eine Idee, von der ich nur nicht sicher bin, ob sie stimmt. Genervtsein und Gereiztsein ist der emotionale Zustand, in dem man sich auf der Kippe sieht, die Kontrolle zu verlieren. Man muß jetzt dieses tun, wollte aber jetzt gerade jenes tun, man gerät in Ärger, wird in der Steigerungsform wütend und der Ausdruck des Sich Be-herrschens ist die Genervtheit. Die Hilflosigkeit kann man übrigens auch noch gut unterbringen, denn fühlte man sich selbstbestimmt und sicher, gäbe es nichts, was kontrolliert werden müsste. Nun habe ich 2 Gefühle im engeren Sinne in der Gereiztheit untergebracht. Ist das hilfreich? Finde ich nicht. Hilfreich war, den Zustand der Gereiztheit näher anzusehen, die Kollision unterschiedlicher Willens-Antriebe, die bewältigt werden muß, wenn man handlungsfähig bleiben möchte. Im Ergebnis kommt für mich heraus, daß die Unterscheidung in Gefühle im engeren und weiteren Sinne müßig ist :-))).       

Ich stellte mir eine anarchische Kommune vor, die zwar im Innern ganz gut funktioniert, aber im Außen auf gänzlich andere Strukturen trifft und auf lange oder vermutlich eher kürzere Sicht daran scheitert. Deshalb meine Hoffnung, dass die Welt vielleicht doch auch zumindest teilweise anarchisch aufgebaut ist, hier also nicht zwei völlig unvereinbare Strukturen aufeinanderprallen. Vermutlich trifft mal wieder beides zu (sowohl als auch! :-)): Es gibt anarchische und hierarchische Strukturen. Aber vielleicht ist es besser ausgedrückt, wenn man von horizontal und vertikal spricht. Einfach zwei verschiedene Richtungen, die beide ihre Berechtigung haben. Es kommt dann mehr auf das Wie an. Also, um mögliche negative Aspekte zu nennen: Wie regellos wirkt sich eine horizontale Struktur hier gerade aus? Wie repressiv wirkt sich eine vertikale Struktur hier gerade aus? („Hier gerade“ ist mir dabei wichtig, denn das ist nichts Statisches, sondern veränderlich.) Positive Aspekte könnten sein: Wieviel Neues entsteht gerade aus der horizontalen Offenheit? Wieviel Stabilität bietet gerade die vertikale Struktur? Meine Kollegin sagt gern: „Jede Stärke ist auch eine Schwäche und umgekehrt.“ Das könnte man gut auf den gesamten Brief beziehen.

Ich hätte Deine klugen Überlegungen so gerne weitergeführt, nur ist mir im Laufe der Woche keine Idee gekommen, wie ich das tun kann. Ich beschließe meinen Brief mit der lakonischen Bemerkung, daß Du zu hoffen gar nicht brauchst, weil in dem Weltverhältnis, wie Du es konzipierst, nichts unvereinbar oder alles vereinbar ist.

F.

 

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