Brief 94 | Stärken und Schwächen

Liebe F.,

Vaterlos

Auf Deine Sicht bin ich neugierig gewesen, weil mich Dein Satz „Das kann ihm nicht gefallen“ (die Leugnung seiner Existenz) bestochen hatte. Indem Du Dich mit dieser Äußerung auf meine Konstruktion einer Person, die irgendwo im Weltall herumschwirrt und s e h r menschliche Züge trägt, eingelassen hast, ist mir wie in einen Spiegel blickend, blitzartig bewusst geworden, wie kindlich naiv diese Vorstellung ist. Dieser Satz also brachte mich auf die Idee, Du könnest mit Klarsicht das gedankliche Gespinst auflösen. Einen Halt zu haben, das kann für mich ein –vielleicht vorläufiger- Schlusspunkt sein, der mir zumindest nicht falsch vorkommt. Damit würde ich auf ein Bedürfnis zurückgehen und dieses als Grund setzen.

Eine Assoziation, die dir jetzt vielleicht überraschend vorkommt: Kannst du dich daran erinnern, wie du dich zur Zeit der Pubertät gefühlt hast? Ich komme darauf, weil auf die Phase des Eltern-Kind-Verhältnisses ja normalerweise eine Phase der Ablösung folgt, in der man viel an Halt verliert, ohne gleich neuen zu haben. Es erwartet dich also, falls du dich aus der Abhängigkeit von diesem Gottvater lösen willst, eventuell so etwas Ähnliches wie die Pubertät. Ich habe diese Phase damals sehr intensiv wahrgenommen. Es findet ja nicht nur eine Ablösung, sondern auch eine Auflösung statt. Eine Auflösung aller Sicherheiten, aller Gewissheiten, ein gähnendes Loch, ohne dass da zu Anfang etwas Neues wäre, das einen auffängt. Eine ziellose Suche, ein Sehnen, Ängste, Unsicherheit, ein sich auftuendes Universum der Möglichkeiten … so viel Verwirrung! Ich habe das unglaublich genossen – manchmal verzweifelt, aber selbst diese Verzweiflung trug zur Faszination bei, die ich angesichts der Tatsache verspürte, dass ich LEBTE. Ich tauchte aus dem Meer des Selbstverständlichen auf und wurde mir meiner selbst und der Welt bewusst. Oder um das Bibelbild zu verwenden: Ich aß vom Baum der Erkenntnis, und fortan konnte das Paradies mir gestohlen bleiben. :-)

Was mich also interessieren würde (falls du dich überhaupt daran erinnern kannst): Wie hast du diese Zeit empfunden? Hat sie dir Angst gemacht und du bist deswegen lieber im Eltern-Kind-Verhältnis geblieben? Oder hast du auch so etwas wie Aufbruchstimmung gespürt, bist aber letztlich doch davor zurückgeschreckt, wirklich den Schritt nach draußen zu tun? Oder hast du diesen Schritt nach draußen zwar getan, aber was du dort gefunden hast, war so kalt oder unwirtlich oder was auch immer, dass du dich nach den alten Verhältnissen zurückgesehnt hast? Oder ganz was anderes, auf das ich jetzt nicht komme? Ich frage, weil ich versuche zu verstehen, warum jemand sein Leben lang ein beängstigendes Verhältnis aufrechterhält, obwohl die äußeren Umstände das gar nicht erzwingen, mir das aber nicht recht gelingen will.

Ich lasse mich probeweise darauf ein, mir die Person „Gott“/“Vater“ wegzudenken und mir den irdischen Gewinn dieser Vorstellung auszumalen. Ich finde mich nicht in den Fängen eines Willkürtyrannen, der je nach Lust und Laune den Daumen nach oben oder unten hält. Mir kommt die Begrifflichkeit vom „geschlossenen“ zum „offenen“ Universum in den Sinn (die Erde als eine Scheibe oder als eine Kugel), was aber auch bedeutet –damit schließt sich der Kreis erneut- mich an Niemanden wenden zu können.

Ich möchte das wieder auf die Erde zurückholen, denn dieses „Niemand“ irritiert mich. Du warst doch verheiratet, wurdest geliebt. Hast vielleicht auch noch andere Menschen, die dir nahestehen. Wenn du Hilfe brauchst, Trost, Zuspruch, Unterstützung, dann wendest du dich doch vermutlich an diese Personen. Man bekommt dann zwar nicht immer genau das, was man braucht, aber sie sind immerhin da, du bist nicht mutterseelenallein im Universum, mit nichts als diesem Gott/Vater als Gegenüber. Das wäre für mich keine tröstliche, sondern eine entsetzliche Vorstellung – ein kaltes, leeres Universum, in dem es nur mich und Gott gibt und kein Entrinnen.

Nachtrag: Eben, kurz bevor ich diesen Brief abschicken wollte, fiel mir ein, dass du ja gar nicht jemanden suchst, an den du dich wegen Zuspruch wenden kannst, sondern wegen (An-)Klage. Das ändert die Sache natürlich. Hilfe und Trost können unsere Mitmenschen geben; aber man kann ihnen nicht die grundlegende Verantwortung für die schiefgehenden oder schmerzhaften Anteile des Lebens geben und gar von ihnen erwarten, dass sie das alles wieder in Ordnung bringen oder zumindest einen Ausgleich schaffen.

 

Die Kraft des Gegenübers aufnehmen

Du hast hier als erstes den Punkt des „entweder – oder“ aufgegriffen, der mir in Verbindung mit der Ohn-Macht, der ich die Handlungs-Macht gegenübergestellt hatte, einfiel. In Verbindung damit dachte ich auch sofort an unser Gespräch über „Glück“ und „Unglück“, ein Drittes gibt es nicht. Und es ist nicht nur der Ausschluß eines Dritten, den Du in das Gegensatzpaar von „Macht“ und „Ohnmacht“ hättest einfügen können, sondern Du wählst darüberhinaus eine ganz andere Begrifflichkeit, wenn Du hier von „handlungs- und entscheidungsfähig“ sprichst. Bei meiner Kontrastierung des „Unglücklichseins“ mit dem „Glücklichsein“ auf der anderen Seite hattest Du, wie oben die „Macht“, das „Glücklichsein“ infragegestellt bzw. mein Verständnis von Glück und in „glücksfähig“ umgewandelt. Weil ich generell denke, daß es mit der Begrifflichkeit, die wir wählen, seine Bewandtnis hat, sie ist nicht egal und zufällig, deswegen gehe ich ihr nach. Wie könnte ich den Unterschied zwischen uns verallgemeinern? Du schreibst „Bewegung“, ich „Statik“; Eigenschaften des Tuns oder Substantivierung; Ontologisierung oder Prozess? Dein öfter erwähntes „sowohl als auch“, im Unterschied dazu mein „entweder-oder“.

Das sind Paare, auf die ich teilweise noch gar nicht gekommen bin. Unter dem Vorbehalt, dass man auch hier wieder aufpassen sollte, diese Gegensätze nicht zu sehr in Stein zu meißeln, sondern sie eher als Tendenzen zu betrachten, belustigt es mich vor allem, dass ausgerechnet ich, die sich als eher passiv empfindet, hier die Seite der Bewegung, des Tuns, des Prozesshaften repräsentiert. :-) Ein schönes Beispiel für die dialektische Einheit der Gegensätze (oder für Yin und Yang, wem das lieber ist).

Nur vorweg, ich habe nicht begriffen, inwiefern es überhaupt ein Widerspruch, egal ob „scheinbar“ oder nicht, sein kann? Achso, Du hattest unausdrücklich ein Machtverhältnis –zwischen Dir und der Welt- unterstellt. Das musste notwendig im „handlungsfähig“ unsichtbar werden, weil Du „handlungsmächtig“ zu denken abgelehnt hattest?

Mein Gedankengang war folgender: Natürlich benötige ich für Handlungsfähigkeit auch eine gewisse Handlungsmacht, sonst bewirken meine Handlungen ja nichts. Fähigkeit und Macht sind nach meinem Gefühl Begriffe, die ineinander übergehen und an den Berührungspunkten nicht ganz klar voneinander zu trennen sind. Man sagt ja zum Beispiel, dass man einer Sache mächtig ist, und meint damit zunächst einmal kein Herrschaftsverhältnis, sondern benutzt das Wort mehr im Sinne von machen = tun: ich kann das. Aber der nächste Schritt ist dann schon, dass man einen Vorgang, eine Fertigkeit beherrscht. Und da gebe ich dir Recht: Wortwahl ist nicht zufällig (deshalb finde ich Etymologie so spannend!). Wenn ich nach einer Zeit der Übung das Radfahren endlich beherrsche, dann macht das Fahrrad, was ich will. Ich beherrsche die Tätigkeit, aber auch das Gerät (oder einen Vorgang oder einen Zustand oder was weiß ich, je nachdem, um was es geht).

„Anarchisch“ fügt sich natürlich gut in das „Wechselspiel“ ein, ein Wort, das Du sehr häufig in Verbindung der Beziehung zwischen Dir und der Welt gebrauchst. „Anarchisch“ meint einen Zustand, der ohne „Herrschaft“ ist. Dann ein Wechselspiel der „Kräfte“ vielleicht ... falls Dir der Begriff nicht zu kämpferisch ist. Ein Wechselspiel der sanften Kräfte.

Kräfte passt schon. Aber wichtiger als die Stärke der wirkenden Kräfte ist mir, dass es sich um ein Wechselspiel handelt, kein Gegenspiel.

Wenn ich so darüber nachdenke, kommt es mir plötzlich ganz natürlich vor, dass ich schon so lange Tai-Chi praktiziere. Es entspricht so sehr meinem Wesen! Man kämpft nicht aggressiv, sondern passiv, reagiert mehr, als dass man agiert, ist aufmerksam, stellt sich auf das (imaginäre) Gegenüber ein, nimmt seine Kraft auf und neutralisiert sie mehr, als dass man zurückschlägt … Wenn man darin Meister ist (wovon ich noch meilenweit entfernt bin, sowohl beim Tai-Chi als auch im Leben), dann ist man fast anstrengungslos stark und unbesiegbar.

Indem Du dazu tendierst, die Ereignisse so hinzunehmen, wie sie nun einmal kommen und sind, behältst Du auf jeden Fall die Kontrolle über Dich selbst, oder? Der Widerstand wird minimiert, es gibt weniger Reibungsfläche, wenig(er) Aufbegehren, d.h. die Gefühle von Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Neid? sie bleiben im wohl dosierten Bereich bzw. dosierst Du sie auf diese Weise s o, daß der Gefühlshaushalt ausgeglichen ist. Unter diesen Umständen gewinnst Du Sicherheit mit Dir selbst, was Dich sicherer gegenüber dem sein lässt, das Dir in der Welt begegnet. Am Ende meiner Überlegung bin ich allerdings im Zweifel, ob „Kontrolle“ das passende Wort ist?

Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Neid … es überrascht mich jetzt doch ein wenig, wie unvertraut mir diese Worte bzw. diese Gefühle sind. Nicht, dass ich sie noch nie verspürt hätte; aber das kommt anscheinend so selten vor (oder wird es mir nur so selten bewusst?), dass beim Lesen nichts bei mir ausgelöst wird, kein Wiedererkennungseffekt.

Aus der Palette der „negativen“ Gefühle (schon diese Anführungszeichen zeigen, dass ich sie eigentlich gar nicht uneingeschränkt als negativ empfinde – für mich sind sie zum jeweiligen Zeitpunkt sinnvoll, wenn auch anstrengend oder schmerzhaft) würde ich eher wählen: Unsicherheit, Niedergeschlagenheit, Ekel (im Sinne von Weltekel, falls du mit diesem Wort etwas anfangen kannst), Überreizung/Gereiztheit/Genervtheit. Das ist dann im akuten Fall gar nicht unbedingt „wohldosiert“, aber es sind schon von sich aus nicht so überflutende Gefühle wie deine Beispiele. Kann ich sie kontrollieren? Jein. Das hängt u.a. davon ab, wie schnell sie mir bewusst werden. Solange sie unreflektiert sind, beträgt die Dosis 100 %. :-) Ich bin im Laufe der Jahre aber immer geübter darin geworden, relativ bald etwas Distanz herzustellen, sodass ich mich dann fragen kann: „Was will dieses Gefühl mir sagen? Anscheinend ist gerade irgendetwas nicht in Ordnung. Was kann ich tun, um das zu ändern?“

[...] ob mein Weltverhältnis wohl eher anarchisch als hierarchisch ist? Da kann ich nur hoffen, dass „die Welt“ das auch so sieht! :-))

Was meinst Du? Genauer gefragt, was würde es bedeuten, die „Welt sähe es nicht so“? Sie würde Dich –in Form von Ereignissen- zur Einsicht ihrer Macht und damit der herarchischen Beziehung zwingen? So oder anders? Und falls ich Dich richtig verstehe, woran würdest Du meinen zu erkennen, daß die Welt es nicht so sieht?

Ich stellte mir eine anarchische Kommune vor, die zwar im Innern ganz gut funktioniert, aber im Außen auf gänzlich andere Strukturen trifft und auf lange oder vermutlich eher kürzere Sicht daran scheitert. Deshalb meine Hoffnung, dass die Welt vielleicht doch auch zumindest teilweise anarchisch aufgebaut ist, hier also nicht zwei völlig unvereinbare Strukturen aufeinanderprallen. Vermutlich trifft mal wieder beides zu (sowohl als auch! :-)): Es gibt anarchische und hierarchische Strukturen. Aber vielleicht ist es besser ausgedrückt, wenn man von horizontal und vertikal spricht. Einfach zwei verschiedene Richtungen, die beide ihre Berechtigung haben. Es kommt dann mehr auf das Wie an. Also, um mögliche negative Aspekte zu nennen: Wie regellos wirkt sich eine horizontale Struktur hier gerade aus? Wie repressiv wirkt sich eine vertikale Struktur hier gerade aus? („Hier gerade“ ist mir dabei wichtig, denn das ist nichts Statisches, sondern veränderlich.) Positive Aspekte könnten sein: Wieviel Neues entsteht gerade aus der horizontalen Offenheit? Wieviel Stabilität bietet gerade die vertikale Struktur?

Meine Kollegin sagt gern: „Jede Stärke ist auch eine Schwäche und umgekehrt.“ Das könnte man gut auf den gesamten Brief beziehen.

B.

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