Brief 93 | Wechselspiel der sanften Kräfte

Liebe B.,

Die Wünsche als Väter der Gedanken

Was deine Frage angeht, was du da „treibst“, so hast du sie, denke ich, schon selbst beantwortet, als du schriebst:

„Ich bin nicht allein“ scheint mir nach einigen Tagen des Überlegens der entscheidende Punkt. Besser noch mich abhängig und abgelehnt zu fühlen als alleine im Universum zu existieren.

Ja, auf diese Antwort kam ich auch wieder, als ich meinen letzten Brief schrieb, und genau an der Stelle hatte ich die Anmutung, ich liefe womöglich im Hamsterrad herum.    

Mehr kann ich dazu gar nicht schreiben. Ich kann nicht beurteilen, was das für dich bedeutet, ob du dich z.B. aus dieser Abhängigkeit lösen möchtest oder sie dir Halt gibt.

Auf Deine Sicht bin ich neugierig gewesen, weil mich Dein Satz „Das kann ihm nicht gefallen“ (die Leugnung seiner Existenz) bestochen hatte. Indem Du Dich mit dieser Äußerung auf meine Konstruktion einer Person, die irgendwo im Weltall herumschwirrt und s e h r menschliche Züge trägt, eingelassen hast, ist mir wie in einen Spiegel blickend, blitzartig bewusst geworden, wie kindlich naiv diese Vorstellung ist. Dieser Satz also brachte mich auf die Idee, Du könnest mit Klarsicht das gedankliche Gespinst auflösen. Einen Halt zu haben, das kann für mich ein –vielleicht vorläufiger- Schlusspunkt sein, der mir zumindest nicht falsch vorkommt. Damit würde ich auf ein Bedürfnis zurückgehen und dieses als Grund setzen.

Deine Argumentation „Es könnte aber doch sein, daß ich ihn irgendwann umstimmen kann. Für diesen Fall, diese Möglichkeit darf ich es mir mit ihm nicht verderben.“ erinnert mich allerdings gerade an die Pascalsche Wette, wonach es allemal besser ist an Gott zu glauben, auch auf die Gefahr hin, dass es ihn nicht gibt (man würde dabei nichts verlieren, könnte aber „alles“ (den Himmel) gewinnen), als nicht an ihn zu glauben, auf die Gefahr hin, dass es ihn doch gibt (in diesem Fall kann man nichts gewinnen, aber „alles“ verlieren (Hölle)). Wie es im Wikipedia-Artikel dazu heißt, ist einer der Schwachpunkte dieser auf den ersten Blick so zwingenden Argumentation, dass der Glaube an Gott sehr wohl etwas kosten kann (man „verliert“ etwas), z.B. Lebensfreude, und die Höhe des Gewinns Spekulation ist, also auch eher enttäuschend ausfallen und den Einsatz nicht wert sein könnte.

Ich lasse mich probeweise darauf ein, mir die Person „Gott“/“Vater“ wegzudenken und mir den irdischen Gewinn dieser Vorstellung auszumalen. Ich finde mich nicht in den Fängen eines Willkürtyrannen, der je nach Lust und Laune den Daumen nach oben oder unten hält. Mir kommt die Begrifflichkeit vom „geschlossenen“ zum „offenen“ Universum in den Sinn (die Erde als eine Scheibe oder als eine Kugel), was aber auch bedeutet –damit schließt sich der Kreis erneut- mich an Niemanden wenden zu können. Der Verlust oder Gewinn an Lebensfreude? Auch dazu kann ich mir nur vorstellen, der Gewinn der Vorstellung eines offenen Universums könne sein, sich als frei, unabhängig und selbstbestimmt zu empfinden ... was wiederum entweder die Befreiung aus der Abhängigkeit eines fremden Willens oder den Verlust eines Halts bedeuten kann. Womit ich ein zweites Mal bei meinem Bedürfnis als Quelle der Gedanken gelandet bin, das Sicherheit möchte.    

Wie wir sprechen

Entscheidungs- und Handlungsmacht? Seltsame Begriffe in meinen Ohren … Aber wieso empfinde ich sie als seltsam? Ich glaube, die „Macht“ „stört“ mich dabei. Ich empfinde mich nicht als „mächtig“, schon gar nicht über das Schicksal oder den Zufall, aber trotzdem als handlungs- und entscheidungsfähig. Macht beinhaltet ein Gefälle, ein Dominanzverhältnis, ein Oben und Unten. Ich muss aber gar nicht dominieren und kann trotzdem meinen Weg gehen. Macht hat ja auch etwas mit Kontrolle zu tun und insofern mit Unsicherheit. Ich fühle mich aber nicht automatisch unsicher, nur weil ich nicht alles kontrollieren kann, über alles Macht habe. Das liegt vielleicht an meiner eher passiven Natur, die ja schon Thema war: Ich lasse die Dinge auf mich zukommen und re-agiere oft statt zu agieren. Und in meiner Reaktion fühle ich mich ziemlich frei. Vielleicht ist das anders, wenn man ein eher aktiver Mensch ist und dadurch häufiger die Erfahrung macht, dass die Dinge nicht so laufen, wie man das geplant hat, insofern also immer wieder an die Grenzen seiner Macht gestoßen wird. Da ich nichts Bestimmtes will, löst es in mir kein Ohnmachtsgefühl aus, wenn etwas anders läuft als erwartet. (Das ist jetzt ziemlich holzschnittartig, denn natürlich will auch ich dieses oder jenes (wenn auch, wie ich immer wieder feststelle, anscheinend etwas weniger als manch andere*r); aber vielleicht hilft es zum besseren Verständnis.)

Du hast hier als erstes den Punkt des „entweder – oder“ aufgegriffen, der mir in Verbindung mit der Ohn-Macht, der ich die Handlungs-Macht gegenübergestellt hatte, einfiel. In Verbindung damit dachte ich auch sofort an unser Gespräch über „Glück“ und „Unglück“, ein Drittes gibt es nicht. Und es ist nicht nur der Ausschluß eines Dritten, den Du in das Gegensatzpaar von „Macht“ und „Ohnmacht“ hättest einfügen können, sondern Du wählst darüberhinaus eine ganz andere Begrifflichkeit, wenn Du hier von „handlungs- und entscheidungsfähig“ sprichst. Bei meiner Kontrastierung des „Unglücklichseins“ mit dem „Glücklichsein“ auf der anderen Seite hattest Du, wie oben die „Macht“, das „Glücklichsein“ infragegestellt bzw. mein Verständnis von Glück und in „glücksfähig“ umgewandelt. Weil ich generell denke, daß es mit der Begrifflichkeit, die wir wählen, seine Bewandtnis hat, sie ist nicht egal und zufällig, deswegen gehe ich ihr nach. Wie könnte ich den Unterschied zwischen uns verallgemeinern? Du schreibst „Bewegung“, ich „Statik“; Eigenschaften des Tuns oder Substantivierung; Ontologisierung oder Prozess? Dein öfter erwähntes „sowohl als auch“, im Unterschied dazu mein „entweder-oder“.              

(Als ich eben nach einer Überschrift für diesen Abschnitt suchte und auf den (scheinbaren?) Widerspruch stieß, dass ich behaupte, ich sei handlungsfähig, obwohl ich gleichzeitig behaupte, dass Macht für mich keine Rolle spielt, kam mir plötzlich der Gedanke, ob mein Weltverhältnis wohl eher anarchisch als hierarchisch ist? Da kann ich nur hoffen, dass „die Welt“ das auch so sieht! :-))

Nur vorweg, ich habe nicht begriffen, inwiefern es überhaupt ein Widerspruch, egal ob „scheinbar“ oder nicht, sein kann? Achso, Du hattest unausdrücklich ein Machtverhältnis –zwischen Dir und der Welt- unterstellt. Das musste notwendig im „handlungsfähig“ unsichtbar werden, weil Du „handlungsmächtig“ zu denken abgelehnt hattest? „Anarchisch“ fügt sich natürlich gut in das „Wechselspiel“ ein, ein Wort, das Du sehr häufig in Verbindung der Beziehung zwischen Dir und der Welt gebrauchst. „Anarchisch“ meint einen Zustand, der ohne „Herrschaft“ ist. Dann ein Wechselspiel der „Kräfte“ vielleicht ... falls Dir der Begriff nicht zu kämpferisch ist. Ein Wechselspiel der sanften Kräfte.      

Dazu:

Macht hat ja auch etwas mit Kontrolle zu tun und insofern mit Unsicherheit. Ich fühle mich aber nicht automatisch unsicher, nur weil ich nicht alles kontrollieren kann, über alles Macht habe. Das liegt vielleicht an meiner eher passiven Natur,[...]

Indem Du dazu tendierst, die Ereignisse so hinzunehmen, wie sie nun einmal kommen und sind, behältst Du auf jeden Fall die Kontrolle über Dich selbst, oder? Der Widerstand wird minimiert, es gibt weniger Reibungsfläche, wenig(er) Aufbegehren, d.h. die Gefühle von Zorn, Wut, Hilflosigkeit, Neid? sie bleiben im wohl dosierten Bereich bzw. dosierst Du sie auf diese Weise s o, daß der Gefühlshaushalt ausgeglichen ist. Unter diesen Umständen gewinnst Du Sicherheit mit Dir selbst, was Dich sicherer gegenüber dem sein lässt, das Dir in der Welt begegnet. Am Ende meiner Überlegung bin ich allerdings im Zweifel, ob „Kontrolle“ das passende Wort ist?          

[...] ob mein Weltverhältnis wohl eher anarchisch als hierarchisch ist? Da kann ich nur hoffen, dass „die Welt“ das auch so sieht! :-))

Was meinst Du? Genauer gefragt, was würde es bedeuten, die „Welt sähe es nicht so“? Sie würde Dich –in Form von Ereignissen- zur Einsicht ihrer Macht und damit der herarchischen Beziehung zwingen? So oder anders? Und falls ich Dich richtig verstehe, woran würdest Du meinen zu erkennen, daß die Welt es nicht so sieht?

Der Kreislauf von Leben und Sterben

„… zunehmend in den Kreislauf von Leben und Sterben eingebunden“ – das ist für mich jetzt ein sehr überraschender Gedanke (nicht an sich, aber in diesem Zusammenhang). Falls du ihn weiter verfolgst und näher zu fassen bekommst, würde ich gelegentlich gern mehr darüber hören.

Ich möchte Dir wenigstens antworten, daß ich passen muß. Obwohl ich im Laufe der Woche ständig darüber sinniert habe, warum und wieso genau diese Formulierung mir eingefallen ist und was sie für mich bedeutet, eben nicht als allgemeine, womöglich auch noch Altersweisheit, :-))) denn die liegt fernab meines Lebensgefühls, bin ich bisher keinen Schritt weitergekommen.

F.

 

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