Brief 92 | Handeln ohne Macht?

Liebe F.,

Pascalsche Wette

So klar hatte ich den Gedanken der Konsequenz bisher nicht gefasst. Ja, es wäre die Leugnung der Existenz dieses Vaters und seiner Macht. Danke! Und wenn dieser Art von Vater sowieso nur an meiner Vernichtung gelegen ist, dann kann ich das Verbot ebenso gut übertreten, denn mehr als vernichten kann er mich nicht. Soweit ist es logisch. Was passiert nun? „Es könnte aber doch sein, daß ich ihn irgendwann umstimmen kann. Für diesen Fall, diese Möglichkeit darf ich es mir mit ihm nicht verderben.“ Kannst Du als unbeteiligte Beobachterin, „von draußen“ besser sehen bzw. erkennen, was ich da treibe? Welcher Logik ich folge? Das frage ich Dich, nachdem ich mir tagelang selber auf die Spur habe kommen wollen und merke, daß ich lediglich im Kreis herumdenke (dem Hamsterrad) – ohne aus ihm rauszufinden.

Noch bevor ich weiter unten gelesen habe, dass du dein Ohnmachtsempfinden verteidigst, habe ich hier spontan gedacht: Aber es geht doch dabei überhaupt nicht um Logik! Die setzt man nur obendrauf, um sich ein Gefühl zu erklären oder ähnliches. Das Gefühl selbst entzieht sich jeglicher Logik. Oder wie du neulich schriebst: „dagegen läuft jede ratio ins Leere“.

Das widerspricht jetzt der Erfahrung, über die wir schon gesprochen haben, dass Gefühle sich durchaus verändern oder auflösen lassen, wenn man sie gedanklich intensiv betrachtet. Hm …

Was deine Frage angeht, was du da „treibst“, so hast du sie, denke ich, schon selbst beantwortet, als du schriebst:

„Ich bin nicht allein“ scheint mir nach einigen Tagen des Überlegens der entscheidende Punkt. Besser noch mich abhängig und abgelehnt zu fühlen als alleine im Universum zu existieren.

Mehr kann ich dazu gar nicht schreiben. Ich kann nicht beurteilen, was das für dich bedeutet, ob du dich z.B. aus dieser Abhängigkeit lösen möchtest oder sie dir Halt gibt.

Deine Argumentation „Es könnte aber doch sein, daß ich ihn irgendwann umstimmen kann. Für diesen Fall, diese Möglichkeit darf ich es mir mit ihm nicht verderben.“ erinnert mich allerdings gerade an die Pascalsche Wette, wonach es allemal besser ist an Gott zu glauben, auch auf die Gefahr hin, dass es ihn nicht gibt (man würde dabei nichts verlieren, könnte aber „alles“ (den Himmel) gewinnen), als nicht an ihn zu glauben, auf die Gefahr hin, dass es ihn doch gibt (in diesem Fall kann man nichts gewinnen, aber „alles“ verlieren (Hölle)). Wie es im Wikipedia-Artikel dazu heißt, ist einer der Schwachpunkte dieser auf den ersten Blick so zwingenden Argumentation, dass der Glaube an Gott sehr wohl etwas kosten kann (man „verliert“ etwas), z.B. Lebensfreude, und die Höhe des Gewinns Spekulation ist, also auch eher enttäuschend ausfallen und den Einsatz nicht wert sein könnte.

 

Handeln ohne Macht?

Ich glaube, daß wir an diesem Punkt nicht weiterkommen. Ich verteidige mein Ohnmachtsempfinden, das sich durch Deine Darstellung nicht rührt, obwohl ich Dir in jedem Punkt zustimme. Die Freiheit, die wir haben, zeigt sich auch in der Wahlmöglichkeit, gegen das Unabänderliche anzuwüten oder es zu erleiden und zu erdulden (in Sartres „Tote ohne Begräbnis“ sogar darin, den Tod zu wählen, um unter der Folter nicht zu verraten) und mein Gefühl –obwohl das Wort nicht recht passt- bleibt dennoch das, ohnmächtig zu sein. Wie ist so etwas überhaupt möglich? Vielleicht, weil „Freiheit“ auch ein „Konstrukt“ ist? Und bedeutet frei zu sein zugleich Entscheidungs- und Handlungsmacht zu haben? Du hast keinen dieser Begriffe gebraucht, Du hast Dich nur gegen meine Darstellung gewandt (und gewehrt), mich als den Umständen (und mir selber?) ausgeliefertes „Opfer“ zu sehen.

Entscheidungs- und Handlungsmacht? Seltsame Begriffe in meinen Ohren … Aber wieso empfinde ich sie als seltsam? Ich glaube, die „Macht“ „stört“ mich dabei. Ich empfinde mich nicht als „mächtig“, schon gar nicht über das Schicksal oder den Zufall, aber trotzdem als handlungs- und entscheidungsfähig. Macht beinhaltet ein Gefälle, ein Dominanzverhältnis, ein Oben und Unten. Ich muss aber gar nicht dominieren und kann trotzdem meinen Weg gehen. Macht hat ja auch etwas mit Kontrolle zu tun und insofern mit Unsicherheit. Ich fühle mich aber nicht automatisch unsicher, nur weil ich nicht alles kontrollieren kann, über alles Macht habe. Das liegt vielleicht an meiner eher passiven Natur, die ja schon Thema war: Ich lasse die Dinge auf mich zukommen und re-agiere oft statt zu agieren. Und in meiner Reaktion fühle ich mich ziemlich frei. Vielleicht ist das anders, wenn man ein eher aktiver Mensch ist und dadurch häufiger die Erfahrung macht, dass die Dinge nicht so laufen, wie man das geplant hat, insofern also immer wieder an die Grenzen seiner Macht gestoßen wird. Da ich nichts Bestimmtes will, löst es in mir kein Ohnmachtsgefühl aus, wenn etwas anders läuft als erwartet. (Das ist jetzt ziemlich holzschnittartig, denn natürlich will auch ich dieses oder jenes (wenn auch, wie ich immer wieder feststelle, anscheinend etwas weniger als manch andere*r); aber vielleicht hilft es zum besseren Verständnis.)

(Als ich eben nach einer Überschrift für diesen Abschnitt suchte und auf den (scheinbaren?) Widerspruch stieß, dass ich behaupte, ich sei handlungsfähig, obwohl ich gleichzeitig behaupte, dass Macht für mich keine Rolle spielt, kam mir plötzlich der Gedanke, ob mein Weltverhältnis wohl eher anarchisch als hierarchisch ist? Da kann ich nur hoffen, dass „die Welt“ das auch so sieht! :-))

 

Der Kreislauf von Leben und Sterben

So wie Du es umschreibst, besonders aufgrund Deines Beispiels, habe ich vielleicht doch eine Ahnung von dem, was Du meinst. Mir ist ein Satz eingefallen, in den ich für mich die Dominanzminderung des „Ich“ komprimiere: Man sieht sich mit zunehmendem Alter (das scheint mir der Grund für die Veränderung bei mir) zunehmend in den Kreislauf von Leben und Sterben eingebunden. Dieser Satz passt zumindest für mich genau, und hier hätte ich ebenso wie Du die große Schwierigkeit herauszufinden und zu sagen, wie sich das konkret zeigt. Ich wäre wohl auch nicht auf die Idee gekommen, diese Veränderung unter Dominanzminderung des „Ich“ zu fassen, kann jetzt allerdings auch nicht sagen, unter welchen Begriff ich sie stellen würde ... denn entdeckt habe ich sie erst, als ich Deine Beschreibung versucht habe nachzuvollziehen. Es ist also ein ganz neuer Gedanke. Oder noch einmal anders gesagt: Insbesondere Dein Beispiel hat ein Echo in mir ausgelöst. Es hat sich „etwas“ in mir verändert, mich selbst und mein Leben in Beziehung zur Welt wahrzunehmen und zu sehen. Nur gelingt es mir –noch- nicht, das näher zu fassen. Und, wie Du sagst, es muß ein Prozess gewesen sein, der unbewußt abgelaufen ist.

„… zunehmend in den Kreislauf von Leben und Sterben eingebunden“ – das ist für mich jetzt ein sehr überraschender Gedanke (nicht an sich, aber in diesem Zusammenhang). Falls du ihn weiter verfolgst und näher zu fassen bekommst, würde ich gelegentlich gern mehr darüber hören. 🙂

B.



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