Liebe B.,
Kleiner Einschub: Unbelebt? Für mich ist eher alles in Bewegung, also lebendig. Selbst Sterne können sterben, leben also vorher in gewisser Weise.
„Kleiner Einschub“ und kurze Korrektur: Ich hatte mich –unausdrücklich- auf die animistische Idee, der Du nichts abgewinnen kannst, bezogen, und anstelle des Ausdrucks „beseelt“ hatte ich den Ausdruck „lebendig“ gewählt.
Weiter in der Psychologisierung
[...] Welche Konsequenzen hätte die Vorstellung eines unbelebten Universums, dass man es mit einem Verbot belegen müsste und, noch stärker, mit Verdammung? – Ah ja, es liefe auf die Abschaffung, die Nichtexistenz dieses Vaters hinaus. Das kann ihm natürlich nicht gefallen. Das heißt, es geht dabei um ihn, nicht um dich? Nur scheint er sein Versprechen: „Wenn du weiter an mich glaubst, wirst du geliebt“ bei dir ja nicht zu halten, denn er taucht immer nur als Vernichter auf.
So klar hatte ich den Gedanken der Konsequenz bisher nicht gefasst. Ja, es wäre die Leugnung der Existenz dieses Vaters und seiner Macht. Danke! Und wenn dieser Art von Vater sowieso nur an meiner Vernichtung gelegen ist, dann kann ich das Verbot ebenso gut übertreten, denn mehr als vernichten kann er mich nicht. Soweit ist es logisch. Was passiert nun? „Es könnte aber doch sein, daß ich ihn irgendwann umstimmen kann. Für diesen Fall, diese Möglichkeit darf ich es mir mit ihm nicht verderben.“ Kannst Du als unbeteiligte Beobachterin, „von draußen“ besser sehen bzw. erkennen, was ich da treibe? Welcher Logik ich folge? Das frage ich Dich, nachdem ich mir tagelang selber auf die Spur habe kommen wollen und merke, daß ich lediglich im Kreis herumdenke (dem Hamsterrad) – ohne aus ihm rauszufinden.
Vorläufiges
Wieso ohnmächtig? Mir „fällt“ etwas „zu“, ja, darauf habe ich keinen Einfluss – das wäre meine Formulierung dafür. Ohnmächtig, das klingt so entsetzlich ausgeliefert, schutzlos, hilflos, starr vor Angst, handlungsunfähig – eine Bedeutungswolke der Vernichtung, die du so oft nennst, und zwar dauerhaft, prinzipiell. Während mein „keinen Einfluss haben“ eher etwas Partielles ist. Auf das, was mir da zufällt, habe ich keinen Einfluss; aber wie ich im Anschluss darauf reagiere, was ich daraus mache, wie ich vielleicht auch verändere, was mir da zugefallen ist – all diese Möglichkeiten stehen mir doch trotzdem offen. Gewiss, immer in den Grenzen, die das Zugefallene mir setzt. Aber ich habe doch trotzdem Spielräume, die ich nutzen kann. Es ist – ich kann dieses Wort gar nicht oft genug sagen – ein Wechselspiel zwischen mir und dem Zugefallenen, der Welt, dem Schicksal oder was auch immer. Selbst bei Unabänderlichem habe ich immer noch die Wahl, ob ich z.B. innerlich dagegen anwüten will oder versuche, das Beste draus zu machen, oder mich davon ab- und anderem zuwende (wenn das möglich ist – das muss man von Fall zu Fall sehen).
Ich glaube, daß wir an diesem Punkt nicht weiterkommen. Ich verteidige mein Ohnmachtsempfinden, das sich durch Deine Darstellung nicht rührt, obwohl ich Dir in jedem Punkt zustimme. Die Freiheit, die wir haben, zeigt sich auch in der Wahlmöglichkeit, gegen das Unabänderliche anzuwüten oder es zu erleiden und zu erdulden (in Sartres „Tote ohne Begräbnis“ sogar darin, den Tod zu wählen, um unter der Folter nicht zu verraten) und mein Gefühl –obwohl das Wort nicht recht passt- bleibt dennoch das, ohnmächtig zu sein. Wie ist so etwas überhaupt möglich? Vielleicht, weil „Freiheit“ auch ein „Konstrukt“ ist? Und bedeutet frei zu sein zugleich Entscheidungs- und Handlungsmacht zu haben? Du hast keinen dieser Begriffe gebraucht, Du hast Dich nur gegen meine Darstellung gewandt (und gewehrt), mich als den Umständen (und mir selber?) ausgeliefertes „Opfer“ zu sehen.
Ach je – ich hätte nie gedacht, dass sich unser Weltverhältnis so grundlegend unterscheidet, wie es sich bei immer tieferem Hinabsteigen in die Urgründe allmählich herauskristallisiert ...
An dieser Stelle möchte ich Dir nicht zustimmen, solange der für mich unerklärte Graben zwischen meinem Gefühl der Hilflosigkeit und meinem Denken im Begriff der Handlungs- und (Selbst-)Verhaltensfreiheit nicht aufgelöst ist.
Veränderliches
[...] Für mich liegt der Schwerpunkt dieses Lebensgefühls nicht so sehr darauf, dass ich mich nicht allein im Universum fühle, sondern darauf, dass mein Ich irgendwie durchlässig ist, wenn auch in wechselndem Maße, also mal mehr, mal weniger. Ich rede aber keineswegs von einer Abschaffung des Ichs, nur von einer Minderung seiner Dominanz. Und ich denke, das läuft meist unbewusst ab, deshalb kriege ich es so schwer zu fassen.
Das war nicht immer so. Aufgrund meiner Schüchternheit stand die Ich-Beobachtung früher sehr im Vordergrund – wie nehmen andere mich wahr? Aber irgendwann muss ich dazu übergegangen sein, diese Ich-Beobachtung ein Stück weit sein zu lassen. „Ich“ wurde mir zunehmend unwichtiger. Ich kann dafür gar keinen konkreten Zeitpunkt angeben, aber das habe ich jetzt wohl zu einem Gutteil verinnerlicht. Es gibt allerdings auch immer wieder Momente, in denen dieses dominante Ich wieder durchschlägt und mir irgendetwas unangenehm ist o.ä. und ich ganz von diesem unangenehmen Ichsein beherrscht werde. Dann hat diese Ichauflösung sozusagen nicht gegriffen. Aber dann kann ich sie nachträglich intellektuell nachvollziehen. Dann sage ich mir: Hat das wirklich Bedeutung? Für wen? Aber oft läuft das unterschwellig ab.
Nun doch ein kleines Beispiel: Heute Morgen beim Frühstück überkam mich plötzlich ein Gefühl des Traurigseins darüber, dass ich hier so allein saß, ohne meinen Mann. Und fast gleichzeitig tauchte ein Gefühl auf, das ich jetzt schon gar nicht mehr richtig zu fassen kriege, so flüchtig war es: „Es ist alles in Ordnung so, wie es ist – deine Traurigkeit, die Wärme, der wohlschmeckende Tee …“ und mein Ich war augenblicklich befriedet und trat zurück in den Hintergrund. Ich weiß nicht, ob man das nachvollziehen kann, ich kann es nicht besser beschreiben.
So wie Du es umschreibst, besonders aufgrund Deines Beispiels, habe ich vielleicht doch eine Ahnung von dem, was Du meinst. Mir ist ein Satz eingefallen, in den ich für mich die Dominanzminderung des „Ich“ komprimiere: Man sieht sich mit zunehmendem Alter (das scheint mir der Grund für die Veränderung bei mir) zunehmend in den Kreislauf von Leben und Sterben eingebunden. Dieser Satz passt zumindest für mich genau, und hier hätte ich ebenso wie Du die große Schwierigkeit herauszufinden und zu sagen, wie sich das konkret zeigt. Ich wäre wohl auch nicht auf die Idee gekommen, diese Veränderung unter Dominanzminderung des „Ich“ zu fassen, kann jetzt allerdings auch nicht sagen, unter welchen Begriff ich sie stellen würde ... denn entdeckt habe ich sie erst, als ich Deine Beschreibung versucht habe nachzuvollziehen. Es ist also ein ganz neuer Gedanke. Oder noch einmal anders gesagt: Insbesondere Dein Beispiel hat ein Echo in mir ausgelöst. Es hat sich „etwas“ in mir verändert, mich selbst und mein Leben in Beziehung zur Welt wahrzunehmen und zu sehen. Nur gelingt es mir –noch- nicht, das näher zu fassen. Und, wie Du sagst, es muß ein Prozess gewesen sein, der unbewußt abgelaufen ist.
Unveränderliches
Wie es ihn braucht? Also aus einem Empfinden des Mangels heraus? Das würde ja heißen, auch ich fühle mich verloren, deshalb schaffe ich mir als Gegengewicht einen harmonischen Kosmos …? Aber wieso schafft sich dein Ich dann nicht auch den Kosmos, den es braucht? Oder andersherum: Wieso brauchst du einen übermächtigen, mit Verdammnis drohenden Vater? – Das sind jetzt eher rhetorische Fragen, auf die ich keine Antworten erwarte und auch selbst keine geben kann.
Nein, der Ausdruck „brauchen“ war wohl missverständlich. Ich meinte keine Kompensation oder den Ausgleich eines Defizits, denn das führt unweigerlich zu den Ungereimtheiten, die Du erwähnst. Gemeint hatte ich, daß das, was wir in den Kosmos „hineinsehen“ in etwa unserem Lebensgefühl entspricht. Fühlt sich das „Ich“ in seiner kleinen Welt, dem Mikrokosmos wohl und sicher und in einer Ordnung aufgehoben, so findet es, das „Ich“ die Entsprechung in seiner Ansicht des Kosmos. Wichtig ist natürlich die Rückwirkung auf unser Lebensgefühl, das verstärkt wird, wenn wir es vom Ganzen, dem Kosmos her bestätigt sehen.
Noch stärker als oben überkommt mich hier ein Gefühl fast der Erschütterung, wenn ich versuche, mich in dein Lebensgefühl hineinzuversetzen, das ja, wenn ich das richtig verstehe, nicht nur ein momentanes, wenn auch öfter auftauchendes Empfinden der Verlassenheit ist, das ja vielleicht jeder und jede mal hat, sondern so etwas wie das grundlegende Hintergrundrauschen deiner Existenz bildet.
Ich erinnere mich genau, daß ich in einem meiner ersten Briefe an Dich geschrieben hatte, daß ich mich nach dem Tod meines Mannes wie ein verlassenes, ausgesetztes Kind fühle. Welches Bild Du damals für Dich gebraucht hattest, das erinnere ich nicht mehr. Es war ein anderes, ganz sicher, denn sonst hätte ich nicht meines dazugestellt. Das Hintergrundrauschen war natürlich während meiner Ehe nicht verschwunden, nur bin ich zu Zweit gewesen. An dieser Stelle stimme ich Dir zu, was unser grundlegend unterschiedliches Weltverhältnis angeht. Du schreibst „Urgründe“ und ich denke dabei sofort das Wort „Wesen“. Es entzieht sich jeder Erklärung, es ist das Ende jeden Erklärens (Du hattest irgenwann einmal über Deine Töchter erzählt, die eine ist s o, die andere ist s o). Damit muß man leben:-))).
F.
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