Brief 86 | Widerspenstige Kräfte

Liebe F.,

Aktiv passiv

Das spitze ich so zu: Ich entziehe mich dem Leben (so weit wie möglich), weil ich es will. Es ist ein aktives Handeln, mit dem Du einem Bedürfnis oder einem Wunsch folgst, es ist Dein Wille zur Durchsetzung eines Wunsches.

[…] Das Sommertagserlebnis (auch ein Bild) zeigt aber dennoch Dein aktives Beteiligtsein im „Abhandenkommen“, wie ich finde, gut. Meine „Zuspitzung“ oben ist gar keine Zuspitzung. Du entfernst Dich, wenn auch nur –zeitlich- vorübergehend, bewußt von der lärmenden Gesellschaft, um in Dein Element, die Ruhe zu kommen.

Seit einigen Briefen kommst du immer wieder auf das Thema Aktivität/Passivität zurück. Ich glaube, ich selbst habe über die aktiven und passiven Anteile in meinem Handeln bisher noch kaum nachgedacht. Ist das Thema für dich von besonderer Bedeutung? Also für dich selbst, nicht nur in Hinsicht auf mich? Oder hat sich das mehr zufällig durch den Gang unseres Austausches so ergeben?

(Mein Element, die Ruhe … das gefällt mir übrigens ausnehmend gut! Aber das nur am Rande.)

 

Das Gegeneinander der Kräfte

Für mich besteht „Leben“ im Gegeneinander zweier Kräfte, egal, ob es sich um „mich“ und ein „Außen“ oder zwei miteinander ringende Kräfte „in mir“ handelt, während Du „Leben“ in „Einheit mit“ siehst.

Nun ja, das Bild dieses stillen, einsamen Schwimmers hat mich vermutlich deshalb so beeindruckt, weil es sich hier um eine Seltenheit gehandelt hat – wann bewegt sich jemand schon je so vollendet durchs Wasser / durchs Leben? Es ist also auch für mich eher ein Ideal als Wirklichkeit, nicht dass hier der falsche Eindruck entsteht, ich hätte diese Einheit tatsächlich verwirklicht. Vielleicht in ganz seltenen Momenten … die dann ebenso kostbar sind wie diese Erinnerung.

Allerdings empfinde ich es tatsächlich nicht so wie du, dass mein Leben sich als Gegeneinander von Kräften abspielt. Dazu ist mein eigener Wille vielleicht schwächer ausgeprägt als deiner? Ich habe sehr oft, besonders bei banalen Alltagsdingen, gar keine besondere Vorstellung, wie etwas jetzt ablaufen soll, sondern lasse mich da eher treiben, von den Umständen oder von anderen Menschen. Vieles ist mir einfach nicht wichtig genug, um mich da groß zu engagieren. Und oft bin ich auch gar nicht richtig bei der Sache, sprich im Außen, bemerke vieles gar nicht. Eventuelle Gegenkräfte des „Außen“ verpuffen also vielleicht einfach, ohne dass ich sie überhaupt wahrnehme?

Widerstreitende Kräfte in mir selbst, dazu fällt mir schon eher etwas ein. (Achtung, jetzt wird’s mikrologisch! Man kann das gern überspringen und weiter unten weiterlesen.) Gehe ich jetzt allein zu dieser Veranstaltung oder nicht? Das hängt davon ab, welche Kräfte in mir da in Widerstreit geraten. Auf der einen Seite Interesse, Pflichtgefühl, der Wunsch, mich endlich mal zu trauen … Auf der anderen Seite eigentlich doch kein so großes Interesse (vorgeschoben oder echt, beides kommt vor), Faulheit, Ängstlichkeit … Manchmal kann ich dieser Auseinandersetzung fast wie ein unbeteiligter, etwas belustigter Zuschauer zugucken. :-) Manchmal freue ich mich, wenn ich mich überwunden habe – entweder in die Gehen-Richtung (ich bin mutig!) oder in die Bleiben-Richtung (ich traue mich, die Erwartungen der anderen nicht zu erfüllen; ich tu das, was wirklich meinem Bedürfnis entspricht). Manchmal stellt sich diese Entscheidung im Nachhinein als falsch heraus („Die Veranstaltung war ätzend, wäre ich doch bloß zu Hause geblieben!“ – „Vielleicht hätte ich mich doch mal überwinden sollen, jetzt tut es mir fast leid, dass ich es nicht getan habe …“). Wenn das öfter vorkommt, baut sich in mir ganz allmählich ein innerer Druck auf, der mich irgendwann dazu bringt, doch mal etwas zu tun, was ich bisher, aus welchen Gründen auch immer, vermieden habe. (Dann bin ich manchmal von mir selbst überrascht! :-))

Das alles ist im akuten Moment zwar manchmal etwas aufwühlend, entwickelt sich im Grunde aber doch eher von selbst. So richtig feindlich stehen sich diese Kräfte nicht gegenüber, es ist eher eine allmähliche Entwicklung als ein Kampf. Vielleicht ist das Beispiel, ja mein Leben selbst einfach zu banal, es gilt keine so richtig dramatischen Entscheidungen zu treffen, wo wirklich widerstreitende Kräfte aufeinanderprallen? Oder gehe ich doch einfach anders damit um als du? Mir fällt eine relativ wichtige Entscheidung des letzten Jahres ein: Nicht im ersten Jahr, aber seit dem zweiten nach dem Tod meines Mannes hatte ich den starken Wunsch, ans Meer zu fahren. Dieser Wunsch kam immer wieder hoch, wurde von mir gedanklich umrundet und dann wieder beiseite gelegt. Anfangs war es noch zu früh dafür, ich war noch nicht bereit dazu, das merkte ich genau. Dann konnte ich mir das immer besser vorstellen, aber die Hemmschwelle des Alleinverreisens war noch zu hoch. So ging das in größeren Abständen immer hin und her, der Gedanke kam hoch und versank wieder, bis ich irgendwann merkte: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen – jetzt kann ich das und jetzt möchte ich das auch. Und schon hatte ich gebucht. Das war zum Schluss gar keine große Entscheidung mehr, die hatte sich unterschwellig von selbst vorbereitet und war sozusagen fertig an die Oberfläche gekommen und musste nur noch in die Tat umgesetzt werden. Also auch hier kein Kampf, kein Widerstreit, kein Aufeinanderprallen, sondern eine viel unspektakulärere Entwicklung.

Wenn du sagst, dass „Leben“ für dich aus dem Gegeneinander zweier Kräfte besteht, dann klingt das für mich so, als wenn das nicht nur bei gewichtigeren Entscheidungen der Fall ist, sondern generell, auch im alltäglichen Allerlei. Ist das so? Also ein permanenter Kampf, nicht nur sporadisch wie bei mir?

Das Schicksal oder die in mir sich widerstreitenden Kräfte behandle ich vorzugsweise wie Menschen. Sie haben einen Willen und eine Absicht.

Bei den inneren Auseinandersetzungen mag das vielleicht so sein. Aber das Schicksal? So wenig, wie ich mir einen Gott vorstellen kann, der mich meinen könnte (schon im Konfirmationsunterricht habe ich nicht verstanden, warum Gott ausgerechnet zu mir gucken sollte – nicht weil ich vielleicht zu unwichtig wäre, sondern weil es mir irgendwie absurd vorkam), so wenig kann ich das mit dem noch viel unpersönlicheren „Schicksal“.

Gerade fällt mir ein, dass mein Mann eine ähnlich animistische Weltsicht hatte wie du. Er konnte sehr hitzig werden, wenn irgendwas nicht so funktionierte, wie er das wollte, und schimpfte mit den Gegenständen wie mit renitenten Menschen. Hinterher sagte er dann oft im Scherz: „Das war wieder die widerspenstige Materie.“ 🛠

B.

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