Brief 85 | Verweilen 🪑

Liebe B.,

Die Überschrift zu meinem Brief bezieht sich auf mein fasziniertes Hängenbleiben am Ausdruck „abhanden kommen“, womit ich das Thema Deines Briefes weitgehend nur weiter umkreise. Zuerst nur auch noch einmal zur Bild“arbeit“.

Ganz unabhängig von den konkreten Bildern, über die wir hier schreiben: Ist es nicht erstaunlich, wie sehr einem das passende Bild dabei hilft, die eigene Situation zu verstehen?      

Genau dies kam mir auch in den Sinn, während ich mit dem konkreten Bild beschäftigt war, und mir ist Deine Beobachtung wichtig genug, um sie ausdrücklich zu bestätigen. Ein Aspekt übrigens, den ich bisher noch kaum jemals beachtet hatte, ist mir in den vergangenen Wochen deutlich(er) geworden: Das Bild oder die Bilder, die wegweisend aus dem nicht rationalen Seelenbereich auftauchen, wirken zugleich auch zurück, wenn man sich an sie heftet und sie bewusst aktiviert. Das Höllenbild ist ein starkes Bild und gelegentlich, wenn ich mich intensiv an dieses Bild hielt, es also absichtlich wachrief, merkte ich eine beklemmende Enge, es wirkte wie ein Sog ... in solchen Momenten, sobald ich dessen gewahr wurde, bin ich dann zu meinem Verstand zurückgekehrt, der sagte, „Profanes“ zu tun oder zu denken sei jetzt besser.      

Das sind für mich sehr überraschende Assoziationen. Das Abhandenkommen verbinde ich eher damit, aus dem Fluss auszusteigen (was natürlich unmöglich ist), sich ihm soweit es geht zu entziehen. Du dagegen siehst mich anscheinend mittendrin schwimmen …

Das spitze ich so zu: Ich entziehe mich dem Leben (so weit wie möglich), weil ich es will. Es ist ein aktives Handeln, mit dem Du einem Bedürfnis oder einem Wunsch folgst, es ist Dein Wille zur Durchsetzung eines Wunsches. Zum Begriff „abhandenkommen“ geht’s unten weiter -

Eine Erinnerung dazu, ausgelöst durch das Bild des Schwimmens: Urlaub in den Sommerferien, ein kleines, dörfliches Schwimmbad mit mehreren Becken für kleinere und größere Kinder. Gejohle, Gejuchze, Geplantsche. Irgendwann wird es mir zu laut, ich brauche eine kleine Pause, ich lasse Mann und Kinder allein und schlendere über das Gelände. Dabei entdecke ich etwas versteckt ein tieferes Becken, in dem ein junger Mann ganz allein seine Bahnen zieht. Wie elegant er das tut, wie gleichmäßig, wie still! Er gleitet im Kraulstil durch das Wasser, seine Hände tauchen ein fast ohne einen Spritzer, nur eine kleine Bugwelle vor ihm, die sich hinter ihm sofort wieder schließt, das Wasser glatt, als sei da nie jemand gewesen… Dieses Bild hat mich all die Jahre begleitet, ich muss sehr oft daran denken, und jedesmal überkommt mich dieselbe Verzauberung wie damals. Er schwamm durch das Wasser, aber er „teilte“ es nicht, wie man so sagt, sondern er tat es so vollendet, so geschmeidig, dass er und das Wasser eine Einheit bildeten. Es war für ihn kein Widerstand, den es zu überwinden galt, sondern es war das Element, in dem er sich mühelos bewegte.

(Kann es übrigens sein, dass das, worauf du beim „sanften Abhandenkommen“ anspringst, nicht so sehr das Abhandenkommen ist (worauf bei mir der Schwerpunkt liegt), sondern die Sanftheit? Der sanfte, unangestrengte, entspannte Umgang mit dem, was einem im Leben so zustößt, nicht der Rückzug daraus? Zustoßen durchaus im wörtlichen Sinne, also die unangenehmeren Dinge, die, die wehtun.)

Das ist sooo schön, Deinen Gedankenbewegungen zu folgen, denn natürlich hatte ich schon bei Deinem erinnerten Sommertagserlebnis sofort gedacht, ja sicher, genau das meinte ich doch! Also zum einen die Sanftheit, das ist richtig und was Du „Einheit“ nennst, das hatte ich, wie ich gerade bemerke, mir umständlich und mühsam vor dem Hintergrund einer Subjekt-Objekt-Theorie zu erklären versucht. „Einheit“ der unterschiedlichen Elemente passt viel besser oder vielleicht auch das Symbol von der Verschlungenheit des „Yin“ und „Yang“. Und noch ein Drittes, das Wort „abhanden kommen“, wann benutzt man es für gewöhnlich? Für Gegenstände, deren Verlust man eher beiläufig bemerkt, und der Vorgang des Verlierens vollzieht sich auch eher undramatisch, wie nebenbei. Noch mehr, denn „Verlust“ ist in diesem Zusammenhang gar nicht das zutreffende Wort. Zeit meines Lebens habe ich entschuldigend gelächelt, wenn ich mir nicht vertrauten Menschen etwas über mich erzählt habe. Irgendwann in den letzten Monaten ist mir auf einmal aufgefallen, daß ich einen Satz über mein Befinden z.B. sage und nicht entschuldigend, das Geäußerte rechtfertigend, beschwichtigend oder relativierend lächle. Welchen Ausdruck wähle ich? Die Verschämtheit ist mir „abhanden gekommen“. Unmerklich ist sie verschwunden, und irgendwann nehme ich das Verschwinden erstaunt wahr. Wenn ich es noch näher bedenke, dann ist das Sanfte, das Leise, und so kehre ich wieder zum Anfang zurück, im Ausdruck des Abhandenkommens bereits enthalten. Von einem unsanften, spektakulären Abhandenkommen zu sprechen, käme mir wie ein Widerspruch vor; es entspräche zumindest nicht meinem Wortempfinden.

Das Sommertagserlebnis (auch ein Bild) zeigt aber dennoch Dein aktives Beteiligtsein im „Abhandenkommen“, wie ich finde, gut. Meine „Zuspitzung“ oben ist gar keine Zuspitzung. Du entfernst Dich, wenn auch nur –zeitlich- vorübergehend, bewußt von der lärmenden Gesellschaft, um in Dein Element, die Ruhe zu kommen. „Lärmende Gesellschaft“ klingt ein wenig herablassend, wie mir auffällt, im Unterschied zu Deiner Umschreibung. Ja, ich konnte und kann dem kindlichen Lebensausdruck nicht wirklich was abgewinnen. Er nervt mich. Und gegenwärtig wie auch vor Jahrzehnten hast Du die Möglichkeit, zurückzugehen in die quirlige Welt.                            

Was mir sehr gut gefällt, ist deine Beschreibung des „Zwischen“. Ja, genau so empfinde ich das Leben: Es ereignet sich „etwas“ aus dem Zusammenspiel von mir und Welt, und man kann gar nicht so recht sagen, wer dabei die treibende Kraft ist, das geht von beiden Seiten aus. Allerdings kommt mir diese Sichtweise gar nicht besonders bemerkenswert vor. Wie sonst sollte Leben sich abspielen?

Das Gegenbild dazu wäre, die Welt, die Ereignisse, das Außen und die Person wie zwei Gegenspieler zu betrachten, wobei die Person das Außen vor allen Dingen wie einen Feind versteht. Das Eigene muß hauptsächlich im Widerstand zur Welt entwickelt und durchgesetzt werden. „Zwei Welten prallen aufeinander“. Aber nein, das ist gar kein Gegenbild, weil es Dir hier um das „Zwischen“ geht und das ist in meinem Bild ebenso enthalten. Nehme ich Dein Bild des Schwimmers, dann liegt der Unterschied darin, daß das vom Körper des Schwimmers „geteilte“ Wasser Gischt hochschäumen lässt, während der sich „geschmeidig“ fortbewegende Schwimmer das Wasser nur minimal, kaum sichtbar bewegt.

Ich schreibe Dir jetzt, ohne daß ich einen Zusammenhang erkennen kann, was mir spontan in den Sinn kommt. Ich habe mein Leben mir und Dir in unseren Anfangsbriefen auch immer so erzählt, daß mir niemals etwas wirklich Schlimmes zugestoßen sei, sondern daß mein Unglücklichsein, meine Unzufriedenheit oder Bedrücktheit ausschließlich das Ergebnis meiner Kämpfe mit mir selbst gewesen seien. Das kann ich heute wiederholen, es gilt immer noch. Selbst den Tod meines Mannes habe ich nicht zu dem, was mir wirklich Schlimmes zugestoßen ist, gezählt, denn „einmal muß uns der Tod scheiden“. Und das nun, was mir seit mehreren Monaten geschieht, ist das, was ich zum ersten Mal in meinem Leben als „etwas Schlimmes empfinde, das mir zustößt“. Ah doch, jetzt erkenne ich die Verbindung:

Er schwamm durch das Wasser, aber er „teilte“ es nicht, wie man so sagt, sondern er tat es so vollendet, so geschmeidig, dass er und das Wasser eine Einheit bildeten. Es war für ihn kein Widerstand, den es zu überwinden galt, sondern es war das Element, in dem er sich mühelos bewegte.

Für mich besteht „Leben“ im Gegeneinander zweier Kräfte, egal, ob es sich um „mich“ und ein „Außen“ oder zwei miteinander ringende Kräfte „in mir“ handelt, während Du „Leben“ in „Einheit mit“ siehst.          

Hier bin ich auch ins Sinnieren gekommen, und zwar über den Punkt, wieso ich anscheinend andere Menschen als potentielle Bedrohung für mein Autonomiestreben empfinde, das „äußerliche Schicksal“ aber nicht. Das ist mir noch nie aufgefallen. Gehören andere Menschen nicht ebenso zum Außen wie alles andere? Offenbar nicht. Offenbar ist das Verhältnis Mensch zu Mensch anders geartet als das Verhältnis Mensch zu Schicksal, jedenfalls bei mir. Ich glaube, das liegt tatsächlich daran, dass Menschen (ich selbst eingeschlossen) in den seltensten Fällen so etwas wie „offene Weite“ verkörpern. In den meisten Fällen stellen sie Forderungen aneinander, auf welcher Ebene auch immer.

Es ist psychologisierendes Spekulieren – insbesondere von Menschen, an dessen Liebe und Wertschätzung einem liegt, kann man verletzt werden. Das Autonomiebestreben kann eine schützende Funktion haben. Achwas :-))), Deine Erklärung ist völlig hinreichend. Menschen haben Absichten und einen Willen, die aufeinander treffen -und weniger konfrontativ ausgedrückt, die einander begegnen.

Ja, und jetzt sehe ich den Unterschied zu meiner Betrachtungsweise. Das Schicksal oder die in mir sich widerstreitenden Kräfte behandle ich vorzugsweise wie Menschen. Sie haben einen Willen und eine Absicht. Das mag eine Prägung unter dem Einfluß meiner ersten Therapieerfahrung sein und der christliche Gott wird ebenfalls personal gedacht, nur finde ich solche Erklärungen inzwischen müßig, weil ich anderen Impulsen, die mir in der mich –damals- umgebenden Welt zur Verfügung standen, hätte folgen können.      

F.

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