Brief 84 | Der Welt sanft abhandenkommen

Liebe F.,

als Einstieg eine kleine Randbemerkung hierzu:

Das ist eine tolle Beobachtung, weil ich mir öfter überlegt hatte, in welcher Beziehung der Abgrund und die Erde zueinander stehen; ob ich immer dann, wenn ich beschäftigt bin, mich oben aufhalte, und sobald ich die Augen schließe, befinde ich mich unten? Oder tagsüber oben und am Abend und in der Nacht unten? Oder ob mich das, was ich auf der Erde sehe und was aber nicht ist, in seiner Abwesenheit unten im Abgrund ausfüllt? Richtig gepasst hat keine der Lösungen, wie ich fand. Die Lösung, mein Leben nicht in zwei getrennten Räumen stattfinden zu lassen, sondern es auf der Erde zu sehen, gefällt mir spontan ... und es ist ja auch richtig. Den „emotionalen Abgrund“ würde ich in diesem Bild als einen andauernden Zustand des Sehnens und des Schmerzes beschreiben. Vorläufig mache ich mir dieses Bild zu eigen, und ich bin auch bereit dazu; mich auf der Erde zu sehen, ist weniger bedrohlich, weil ich dort ... oder besser hier in der Nähe von Menschen bin.

Ganz unabhängig von den konkreten Bildern, über die wir hier schreiben: Ist es nicht erstaunlich, wie sehr einem das passende Bild dabei hilft, die eigene Situation zu verstehen?      

 

Nun zum „sanft Abhandenkommen“, meinem diesmal einzigen Thema, mit manchen Weiterungen und Querverbindungen.

Mich fasziniert die Wirkung des „der Welt sanft abhanden gekommen“, weil ich das allererste Mal die für mich seltsame Verknüpfung von Aktivität und Passivität bei Dir zu verstehen meine. Dazu gehört zum Beispiel auch eine Deiner häufiger gebrauchten Redewendungen „es hat sich so ergeben“. Der Welt „sanft abhanden kommen“ changiert zwischen dem aktiven und passiven Modus. Weder die Welt noch Du sind das handelnde oder erleidende Subjekt. Es ereignet sich „etwas“, das die Folge einer Entwicklung zwischen Dir und der Welt ist. Das Älterwerden, die Zäsur durch den Tod Deines Mannes, Dein So-Sein. Das heißt, ich verstehe auf einmal, was es heißen könnte, im Fluß des Lebens mitzuschwimmen. Das Mitschwimmen ist der aktive Part. 

Das sind für mich sehr überraschende Assoziationen. Das Abhandenkommen verbinde ich eher damit, aus dem Fluss auszusteigen (was natürlich unmöglich ist), sich ihm soweit es geht zu entziehen. Du dagegen siehst mich anscheinend mittendrin schwimmen …

Eine Erinnerung dazu, ausgelöst durch das Bild des Schwimmens: Urlaub in den Sommerferien, ein kleines, dörfliches Schwimmbad mit mehreren Becken für kleinere und größere Kinder. Gejohle, Gejuchze, Geplantsche. Irgendwann wird es mir zu laut, ich brauche eine kleine Pause, ich lasse Mann und Kinder allein und schlendere über das Gelände. Dabei entdecke ich etwas versteckt ein tieferes Becken, in dem ein junger Mann ganz allein seine Bahnen zieht. Wie elegant er das tut, wie gleichmäßig, wie still! Er gleitet im Kraulstil durch das Wasser, seine Hände tauchen ein fast ohne einen Spritzer, nur eine kleine Bugwelle vor ihm, die sich hinter ihm sofort wieder schließt, das Wasser glatt, als sei da nie jemand gewesen… Dieses Bild hat mich all die Jahre begleitet, ich muss sehr oft daran denken, und jedesmal überkommt mich dieselbe Verzauberung wie damals. Er schwamm durch das Wasser, aber er „teilte“ es nicht, wie man so sagt, sondern er tat es so vollendet, so geschmeidig, dass er und das Wasser eine Einheit bildeten. Es war für ihn kein Widerstand, den es zu überwinden galt, sondern es war das Element, in dem er sich mühelos bewegte.

(Kann es übrigens sein, dass das, worauf du beim „sanften Abhandenkommen“ anspringst, nicht so sehr das Abhandenkommen ist (worauf bei mir der Schwerpunkt liegt), sondern die Sanftheit? Der sanfte, unangestrengte, entspannte Umgang mit dem, was einem im Leben so zustößt, nicht der Rückzug daraus? Zustoßen durchaus im wörtlichen Sinne, also die unangenehmeren Dinge, die, die wehtun.)

Was mir sehr gut gefällt, ist deine Beschreibung des „Zwischen“. Ja, genau so empfinde ich das Leben: Es ereignet sich „etwas“ aus dem Zusammenspiel von mir und Welt, und man kann gar nicht so recht sagen, wer dabei die treibende Kraft ist, das geht von beiden Seiten aus. Allerdings kommt mir diese Sichtweise gar nicht besonders bemerkenswert vor. Wie sonst sollte Leben sich abspielen?

[…] hier […] bin ich ins Sinnieren gekommen, wie Du den Wunsch nach Autonomie in Einklang bringst mit einem -nicht menschlichen- "Außen", womit ich von Dir nicht zu beeinflussende Umstände meine wie Krankheit und Tod. Du hattest dieses „Außen“ vor einiger Zeit auch als „Schicksal“ bezeichnet, das Du demütig annimmst. Gehört es zur Profanität dazu, daß dieses unbestimmte Außen tatsächlich bedeutungs-los bleibt? Ein anderer Begriff dafür wäre „Wertung“. Das Schicksal ist weder feindlich noch freundlich, es ist „offene Weite“? Oder es ist das „Kontingente“? Es ereignet sich ohne Dein Zutun und Du passt Dich ihm an; indem Du mitschwimmst, bist Du selbstbestimmt?

Hier bin ich auch ins Sinnieren gekommen, und zwar über den Punkt, wieso ich anscheinend andere Menschen als potentielle Bedrohung für mein Autonomiestreben empfinde, das „äußerliche Schicksal“ aber nicht. Das ist mir noch nie aufgefallen. Gehören andere Menschen nicht ebenso zum Außen wie alles andere? Offenbar nicht. Offenbar ist das Verhältnis Mensch zu Mensch anders geartet als das Verhältnis Mensch zu Schicksal, jedenfalls bei mir. Ich glaube, das liegt tatsächlich daran, dass Menschen (ich selbst eingeschlossen) in den seltensten Fällen so etwas wie „offene Weite“ verkörpern. In den meisten Fällen stellen sie Forderungen aneinander, auf welcher Ebene auch immer.

Kontingent: Ich mag diesen Begriff auch sehr, aber hier trifft er meines Erachtens nur bedingt zu. Sicher gibt es vieles, auf das ich überhaupt keinen Einfluss habe. Aber es gibt auch vieles, was sich im Zusammenspiel von mir und Welt ereignet. Ich bin ja nicht völlig willen- und machtlos, ich agiere ja, und meine Aktionen haben eine Wirkung im Außen, wodurch es sich verändert. Das ist nun sehr abstrakt ausgedrückt. Um dein Beispiel Krankheit aufzugreifen: Natürlich gibt es Krankheiten, die ich mir „ohne mein Zutun“ hole, die also in diesem Sinne kontingent sind, Viruserkrankungen etwa (im Gegensatz zu einer Raucherlunge, an der ich selbst schuld bin). Aber der weitere Verlauf ist dann nicht mehr ausschließlich kontingent. Es macht einen Unterschied, ob ich die Krankheit ignoriere, mich weiterhin Stress aussetze, angestrengt arbeite oder was auch immer, oder ob ich auf meinen fiebrigen Körper höre und mich ins Bett lege.

Ich merke, daß die Autonomie und das Außen eine Fortsetzung und weitere Umrundung des Themas „Aktivität“ und „Passivität“ von oben ist.

Ja, und wie so oft läuft es darauf hinaus, dass es sich nicht um ein Entweder-Oder handelt, sondern um ein Sowohl-Als-Auch. (Dies ist übrigens die nachhaltigste Erkenntnis meiner vielen Jahre in Philosophieforen. 😊)

B.

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