Liebe F.,
Nochmal zur Ganzheit
Oja. Das Wort „Ganzheit“ übt eine starke Anziehungskraft auf mich aus. Es ist ein Wort wie aus einer fremden Welt, das mich an paradiesische Befindlichkeit denken lässt.
Paradiesisch … hm, ich weiß nicht … Ich sehe das etwas nüchterner. Zu dieser Ganzheit gehören ja auch alle negativen Anteile – Ängste, Trauer, unerfüllte Träume, Zorn, Unzufriedenheit … Und ist man in gewisser Hinsicht nicht immer eine Ganzheit? Das hatte ich in meinem letzten Brief gemeint, als ich in Klammern schrieb, ich sei zwar einerseits weit von einer Ganzheit entfernt, andererseits aber auch wieder nicht. Das klingt natürlich paradox, aber vielleicht kann man das so auflösen: Es geht um den Unterschied, sich als Ganzheit zu fühlen und eine Ganzheit zu sein. Man ist immer eine Ganzheit, das geht ja gar nicht anders; all die vielen einzelnen Aspekte und ihr Zusammenspiel machen das aus, was ich insgesamt gerade jetzt bin. Dies auch bewusst zu fühlen und zu akzeptieren ist aber eine etwas andere Sache.
Und was habe ich davon, wenn mir das bewusst wird? Du beschreibst es selbst:
In meiner Terminologie käme Deiner Umschreibung, insbesondere dem „willkommen heißen“ der Ausdruck „versöhnt sein“ (mit mir und der Welt) nahe.
Ja, vor allem auf die negativen Aspekte dieser Ganzheit bezogen ist Versöhntsein der bessere Ausdruck. Ich heiße sie ja nicht wirklich alle willkommen, aber alles in allem bin ich schon in Ordnung so, wie ich bin. Sich dieses Gefühls bewusst zu sein empfinde ich als sehr wohltuend.
Vom Glück der Kontakte und vom Glück des Alleinseins
*Himmel, jetzt, beim letzten und abschließenden Korrekturlesen kommt mir in den Sinn, ich könne völlig an Dir vorbeigeredet haben, weil Du Dein Alleinsein in Kontrast gesetzt hast zur Partnerbeziehung, zur Zweisamkeit und nicht als Kontrast zu menschlichen Beziehungen allgemein hast verstanden wissen wollen !!! Wenn das so ist, dann wäre der „diametral entgegengesetzte Ausgangspunkt“ mir auch vollkommen einsichtig.
Gut, ich habe das Sternchen zuerst gelesen. :-) Und ja, du hast ganz recht: Ich bin da etwas hin und her gesprungen und habe mich mal auf das allgemeine Alleinsein und mal auf den Aspekt der Zweisamkeit bezogen. Das war mir gar nicht bewusst gewesen. Kein Wunder, dass dich das durcheinandergebracht hat.
Deine Einwendungen sind jedenfalls alle sehr berechtigt!
Ich glaube, dass das Alleinsein sich bei mir so in den Vordergrund geschoben hat (so sehr, dass ich darüber die Bedeutung der sozialen Kontakte fast vergessen habe), liegt daran, dass ich immer noch erstaunt darüber bin, wie wichtig es für mich ist. Dazu muss ich wohl etwas weiter ausholen.
Mein Mann hatte immer mal wieder die Befürchtung geäußert, er könne mich mit seiner ausgeprägten Menschenscheu an einem offeneren, fröhlicheren, geselligeren Leben hindern. Ich hatte ihn zwar immer beruhigt und versichert, dass dem nicht so sei. Einerseits holte ich mir die Geselligkeit halt ohne ihn, wenn ich ein Bedürfnis danach hatte, andererseits war meine Ungeselligkeit manchmal sogar noch ausgeprägter als die seine. Meistens jedoch waren wir uns in dieser Hinsicht sehr einig.
Dennoch hatte ich manchmal den Verdacht, dass wir uns vielleicht einfach sehr aneinander angepasst hatten. Was wäre, wenn ich mit einem anderen, kontaktfreudigeren Mann leben würde? Hätte ich dann eben meine gesellige Seite mehr ausgeprägt, das vielleicht sogar genossen? (Meine spontane Reaktion: Es hätte mich nach kurzer Zeit genervt.) Das wiederum warf in mir die Frage auf, die mich nun schon die ganze Zeit begleitet, seit mein Mann tot ist: Wer oder wie bin ich eigentlich ganz für mich allein, ohne den Einfluss eines Partners?
Damals war gerade der Corona-Lockdown, was mir in dieser ersten, akuten Trauerphase sehr guttat, mir aber auch vor Augen führte, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich in einigen Jahren in Rente gehe und dann buchstäblich niemanden mehr hätte außer meinen Töchtern. Und das erschien mir sowohl für mich selbst als auch für meine Töchter unzumutbar. Ich habe also ziemlich schnell verstanden, dass ich ein paar weitere Ankerpunkte in der Welt brauchte, und habe sie gesucht und glücklicherweise ziemlich schnell gefunden.
Dann folgte jedoch Phase 2. Nachdem dieses Grundbedürfnis nach Kontakten – und ja, das ist wirklich ein elementares Bedürfnis – einigermaßen und vor allem (so hoffe ich) nachhaltig befriedigt war, stellte ich zunehmend fest, dass ich mich über diese (wenigen) Kontakte zwar sehr freute, dass sie mir aber immer wieder schnell zu viel wurden. Ganz wie zu Lebzeiten meines Mannes! Nach jedem Kontakt, und wenn er noch so interessant oder erfreulich war, bin ich unglaublich froh, allein in meine Wohnung zurückkehren zu können. Ich atme dann regelrecht auf, noch viel stärker als früher. (Gerade flasht eine Erinnerung hoch: Ich habe es schon als Kind – oder vermutlich wohl eher als Heranwachsende – geliebt, wenn ich nach Hause kam und überraschenderweise niemand da war. Eine Weile ganz für mich allein zu sein war so beglückend!) Der Genuss des Alleinseins ist so groß, dass ich nicht das geringste Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung habe, ja sie mir geradezu als eine Störung vorstelle. Und es ist gewiss kein Zufall, dass meine engeren Kontakte alle virtuell sind.
Aber du hast natürlich Recht: Dieser Pol benötigt einen Gegenpol als Balance. Mir fällt die Gewichtung ein, die ich vor einiger Zeit mal vorgenommen habe: Gleichgewicht bedeutet für mich nicht 50 : 50, sondern eher 80 : 20, also mindestens 80 % Alleinsein und höchstens 20 % Kontakte.
Hast Du vergessen, daß Du, ebenso wie ich, schon kurze Zeit nach dem Tod Deines Mannes gemerkt hast, daß Du andere Menschen brauchst? Du hast Dich aus Selbstfürsorge um diesen Bereich Deines Lebens gekümmert und nun, nachdem Du Dir ein feines Netz gesponnen hast, bist Du in der Situation, wie Du sie oben beschreibst. Du hast Kinder, Du hast Enkelkinder, Du bist beruflich in ein soziales Umfeld mit Kontakten eingebunden, Du hast freundschaftliche Beziehungen. Dies alles habe ich nicht. Mein Netz ist jedenfalls dünner, und ich bewege mich auf unsichererem Terrain.
Hier nun eine Widerrede meinerseits: Das stimmt so nicht ganz. Gut, du hast keine Kinder und Enkelkinder. Ich sehe meine Familie zwar nur sehr sporadisch, aber das ist natürlich ein enorm wichtiger Halt im Hintergrund. Aber die beruflichen (oder bei dir ehrenamtlichen, wie bei mir in einiger Zeit auch nur noch) Kontakte hast du auch. Und was meine freundschaftlichen Beziehungen angeht, so sind die alle virtuell, d.h. hier vor Ort habe ich keine Menschen, die ich als meine Freunde bezeichnen würde, nur als nähere oder fernere Bekannte. Und virtuell sind es ganze drei Freundinnen. Und die hast du doch anscheinend auch, denn du erwähnst gelegentlich die Namen zweier Frauen, die dir offenbar näherstehen.
Vom Glück allgemein
Nachdem mein Mann gestorben war, habe ich gedacht, daß mein Mann mein Leben nicht glücklich, sondern gut gemacht hat. Nicht glücklich deswegen, weil niemand, kein Mensch das gekonnt hätte, es hatte mit meinem Mann nichts zu tun. Unter „glücklich“ verstehe ich wie Du einen inneren Zustand, eine Haltung, eine Befindlichkeit und nicht das Vorhandensein bestimmter äußerer Bedingungen. Und ja, diese innere Haltung des Nicht-Einverständnisses mit mir selbst, das hat auch mein Mann nicht verändern können. Meine Glücksfähigkeit war daher nicht besonders ausgeprägt (ausgenommen ein punktuelles Glücksempfinden).
Erst nach mehrmaligem Lesen bin ich über dieses „Nicht-Einverständnis mit mir selbst“ gestolpert, das dich, wenn ich das richtig verstehe, am Glücklichsein hindert. Und ich vermute, dass hier ein Unterschied zwischen uns beiden besteht. Wahrscheinlich ist mein „Einverständnis mit mir selbst“ größer als deines und insofern mein Weltverhältnis entspannter, aber das ist für das, was ich gemeint hatte, gar nicht so entscheidend. Die Glückserfahrungen, an die ich bei meiner Beschreibung gedacht hatte, entspringen zwar einem inneren Vermögen, haben also insofern etwas mit mir selbst zu tun. Aber ich glaube, meine glücklichen Momente oder auch längeren Zeiten finden meistens statt, wenn es gar nicht um mich geht oder wo ich mich selbst nicht weiter beachte. Ob ich mit mir selbst einverstanden bin oder nicht, spielt dabei gar keine Rolle. Denke ich vielleicht nicht so viel über mich selbst nach wie du? Ich schreibe das nur zögernd, weil sich das so anhört, als würdest du zu viel über dich nachdenken. Und es ist ja auch nicht richtig, denn ich denke durchaus ziemlich häufig über mich nach. Aber vielleicht geschieht das bei mir mit mehr Distanz, während bei dir eine Art Ablehnung („Nicht-Einverständnis mit mir selbst“), also ein Gefühl vorherrschend ist? Ich spekuliere hier, weil ich natürlich nicht wissen kann, was in dir vorgeht. Auf jeden Fall war ich auch zu Zeiten glücklich, als mein Selbstwertgefühl oder mein Selbstbewusstsein nur sehr schwach waren und ich darunter ziemlich gelitten habe. Das eine hat also mit dem anderen bei mir nicht unbedingt etwas zu tun. Um Glück zu empfinden, muss ich mit mir selbst nicht im Reinen sein, es liegt sozusagen außerhalb von mir. Oder vielleicht besser: Ich befinde mich im Außen. Oder noch richtiger: Dieses Ich ist in solchen Momenten gar nicht spürbar, es verschmilzt mit dem Außen. – Wieder so eine Stelle, wo man an die Grenzen der Sprache stößt.
Offene Fragen
Was heißt nun „gut“ gemacht? Ich hätte so gerne ein anderes Wort dafür gewählt, damit Du besser verstehst, was ich meine, aber es gibt kein richtigeres Wort dafür. Mein Leben hatte einen Sinn, es war nicht umsonst. Das heißt „gut“ gemacht. Irgendwann im Laufe der letzten Jahre muß der Sinn, der aus der Vergangenheit die Gegenwart noch eingeschlossen hat, verloren gegangen sein. Derzeit empfinde ich mein Leben daher als sinn-los, es ist umsonst. Wahrscheinlich ist nun die Suche der Sinn. Deine Frage, ob ich damit mein ganzes Leben für umsonst gelebt halte –wenn ich dies so klar formuliere, zieht es selbst mir die Schuhe aus- die kann ich nicht beantworten.
Sinn – ich komme mit diesem Wort einfach nicht zurecht. War mein Leben sinnvoll, als ich es mit meinem Mann zusammen verbracht habe? Ist mein Leben sinnlos, weil ich nun allein durch die Welt gehe? Ist mein Leben dadurch sinnvoll, dass ich Kinder in die Welt gesetzt habe? Sind alle einsamen Menschen sinnlos?
Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Immer, wenn ich über „Sinn“ nachdenke, will es mir so scheinen, als ob das eine Sache ist, die wir uns konstruieren, mit der unterschwelligen Implikation, dass es sich hier nicht um etwas Reales, sondern um etwas Imaginiertes handelt. Was dann bei mir die Frage aufwirft: Ja und – hat etwas Imaginiertes etwa keine Bedeutung? Hier überstürzen sich meine Gedanken dann regelmäßig, und ich breche das ab.
Dass du dein Leben während deiner Ehe als „gut“ empfunden hast, kann ich dagegen sehr gut nachvollziehen. Das ist so ein Konglomerat aus Geliebtwerden, Gebrauchtwerden, Geschätztwerden, wichtig für jemanden sein, eine durch niemanden zu ersetzende Bedeutung haben … Dieses über viele Jahre gewachsene und tief verwurzelte Lebensgefühl ist mit dem Tod des Partners weggebrochen. Wodurch ersetzt man es? Kann man es überhaupt ersetzen? Oder kann man es nur wieder in einer Beziehung herstellen?
Ich stelle all diese Fragen, ohne eine Antwort zu haben.
B.
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