Liebe B.,
ich lasse die Abschnitte Deines Briefes zu den einzelnen Themen jeweils beieinanderstehen –ausgenommen im Mittelteil- und beziehe mich in meiner Antwort auf alle zitierten Passagen.
Sprachlich schwer zu fassen
[...] und jedesmal hast du sehr interessiert nachgefragt, was genau ich denn meinte – so, als sei das ein dir unbekanntes Phänomen, über das du gern mehr erfahren würdest. Ist das so?
Oja. Das Wort „Ganzheit“ übt eine starke Anziehungskraft auf mich aus. Es ist ein Wort wie aus einer fremden Welt, das mich an paradiesische Befindlichkeit denken lässt.
Bewusster ist mir auch, dass diese Ganzheit (von der ich einerseits noch weit entfernt bin, andererseits aber auch wieder nicht) nicht homogen ist, sondern in sich vielfältig. Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das eigentlich selbstverständlich. Trotzdem fühlt sich dieser Gedanke für mich neu an.
Was genau meine ich eigentlich mit Ganzheit? Auf jeden Fall nichts im Sinne von Vollständigkeit oder Fülle („erfülltes Leben“). Oder vielmehr: Das ist nur ein Aspekt davon, und nicht einmal ein besonders wichtiger, auch wenn ich die vielen neu hinzugekommenen oder deutlicher gewordenen Facetten sehr begrüße. Mit Ganzheit meine ich mehr die Harmonie, die Stimmigkeit aller Teile. Und diese Harmonie zeigt sich klarer in der Beschränkung als in der Fülle.
Die Leere, der Raum zum Atmen, zum Ruhigwerden in dem, was ich an und in mir und für mich akzeptiere und willkommen heiße – ach, es ist so schwer, das in Worte zu fassen, aber so ungefähr würde ich heute die Ganzheit beschreiben, die ich meine. (Morgen können es vielleicht ganz andere, aber ebenfalls zutreffende Beschreibungen sein.)
Gut, daß Du die „Vollständigkeit“ und „Fülle“ als einen Aspekt unterscheidest, denn für mich ist es am Naheliegendsten, zur „Ganzheit“ vor allem die „Vollständigkeit“ zu assoziieren. In meiner Terminologie käme Deiner Umschreibung, insbesondere dem „willkommen heißen“ der Ausdruck „versöhnt sein“ (mit mir und der Welt) nahe.
Aber vermutlich stoßen die Möglichkeiten, eigenes Erleben für Andere nachvollziehbar mitzuteilen, auch an ihre Grenzen; nicht nur, weil Menschen so unterschiedlich sind, sondern insbesondere auch, weil diese Form von Existenzgefühl so „schwer in Worte zu fassen“ ist. Ich denke, bei derartigen Erfahrungen hinkt die Sprache notwendig dem „wie es ist“, dem Erleben hinterher. Sie kann die Bedeutung niemals vollständig und angemessen er-fassen.
Grundbedürfnisse
Du sprichst im ersten Absatz von den Grundbedürfnissen. Spontan dachte ich: Mein Grundbedürfnis ist das Alleinsein. Ich bin mir nicht sicher, wie grundlegend das tatsächlich ist, aber ich lasse das für heute als einen Montaigneschen bunten Fetzen einfach mal so flattern.
Bitte lies meine folgende Entgegnung unter der Voraussetzung, daß mir Deine Einschränkung auf das Provisorische nicht entgangen ist. *Und noch besser wäre, :-))) Du läsest zuvor den *-chennachtrag am Ende des Abschnittes.
Dieses Grundbedürfnis ist allerdings nur dann erfüllt, wenn Du zugleich nicht alleine sein musst. Ich möchte unsere inzwischen über 70 Briefe nicht durchsuchen und schreibe deswegen aus der Erinnerung. Die ersten 2 Jahre Deines Alleineseins resümierend, hattest Du irgendwann geschrieben, wie wichtig menschliche Beziehungen für Dich sind. Die familiären Bindungen und weitere soziale Kontakte, die es Dir überhaupt erst ermöglichen würden, Dein Alleinesein als ein frei gewähltes Alleinesein zu genießen. Deine längere, beharrliche Beschäftigung mit dem Austarieren des Gleichgewichts zwischen dem Für-Dich-Sein und dem Mit-Anderen-Sein setzt aus meiner Sicht ebenfalls das Befürfnis nach freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Menschen voraus. Ich denke daher, daß Du nur vor diesem Hintergrund, dem der Befriedigung Deines Bedürfnisses nach Kontakten überhaupt Dein Grundbedürfnis nach Alleinesein als ein solches feststellen kannst. Angenommen, das von mir Aufgeführte fiele weg, wäre nicht, dann ...
Daraus ergibt sich ein seltsames Wechselspiel mit der Welt: Da mein „Grundbedürfnis“ schon erfüllt ist, ist für mich tatsächlich jede Begegnung (es sind nur wenige, nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht) eine solche Zugabe, wie du es nennst, und zwar fast immer willkommen und mit „interesseloser“ (weil nichts wollender) Wertschätzung. Ich würde bei mir vielleicht eher von Geschenk als von Zugabe sprechen, da ich ja kein „eigentliches“ Ziel habe. Mein Alleinsein empfinde ich dadurch nicht als gefährdet, sondern bereichert, also kann ich es einfach geschehen lassen und annehmen. Wenn es mir zu viel wird, ziehe ich mich halt zurück in mein Alleinsein. Mein Ausgangspunkt ist deinem also diametral entgegengesetzt.
... könntest Du das Obige nicht schreiben. Hast Du vergessen, daß Du, ebenso wie ich, schon kurze Zeit nach dem Tod Deines Mannes gemerkt hast, daß Du andere Menschen brauchst? Du hast Dich aus Selbstfürsorge um diesen Bereich Deines Lebens gekümmert und nun, nachdem Du Dir ein feines Netz gesponnen hast, bist Du in der Situation, wie Du sie oben beschreibst. Du hast Kinder, Du hast Enkelkinder, Du bist beruflich in ein soziales Umfeld mit Kontakten eingebunden, Du hast freundschaftliche Beziehungen. Dies alles habe ich nicht. Mein Netz ist jedenfalls dünner, und ich bewege mich auf unsichererem Terrain. Womit ich nur sagen möchte, daß ich an dieser Stelle den „diametral entgegengesetzten Ausgangspunkt“ zwischen uns nicht sehe.
*Himmel, jetzt, beim letzten und abschließenden Korrekturlesen kommt mir in den Sinn, ich könne völlig an Dir vorbeigeredet haben, weil Du Dein Alleinsein in Kontrast gesetzt hast zur Partnerbeziehung, zur Zweisamkeit und nicht als Kontrast zu menschlichen Beziehungen allgemein hast verstanden wissen wollen !!! Wenn das so ist, dann wäre der „diametral entgegengesetzte Ausgangspunkt“ mir auch vollkommen einsichtig.
Zwischentöne oder nicht
Für mein Leben … ist das wirklich so umfassend gemeint? Ich könnte ja verstehen, wenn du das nur auf deine jetzige Situation beziehst, die du dir nicht „schönreden“ willst, wie du letztens schriebst, mit Beschwichtigungen wie „Heute ist doch eigentlich ein ganz schöner Tag gewesen“ oder ähnlichem. Nein, du hast eine tiefgehende Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung, und solange die nicht erfüllt ist, zählt alles andere nicht, bleibt nur oberflächlich. So ungefähr? Aber du beziehst das tatsächlich auf dein ganzes Leben?
Nach meinem Gefühl widerspricht das jeglicher „Lebenslogik“. Wenn ich nicht ausgesprochen glücklich bin, dann bin ich meistens vieles andere, aber in den seltensten Fällen unglücklich. Aber vielleicht ist meine Vorstellung von Glück auch eine andere als deine? Ich habe gewiss nicht immer „Glück“ im landläufigen Sinne und lebe auch nicht in einem ständigen Gefühlsüberschwang. Aber ich würde mich als einen Menschen mit einem ziemlich großen Talent zum Glücklichsein bezeichnen. Glück ist für mich mehr die Beschreibung eines inneren Vermögens als äußerer Umstände. Das hat mich in der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes ja so sehr irritiert und verunsichert, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte selbst jetzt noch glücklich sein. Inzwischen bin ich sehr dankbar dafür, dass ich diese Fähigkeit nicht verloren habe.
Der weitere Gang dieser Überlegungen würde mich sehr interessieren!
Ich freue mich sehr, daß Du nachfragst, denn meine Überlegungen sind an dieser Stelle in der darauffolgenden Woche tatsächlich weitergegangen. Nachdem mein Mann gestorben war, habe ich gedacht, daß mein Mann mein Leben nicht glücklich, sondern gut gemacht hat. Nicht glücklich deswegen, weil niemand, kein Mensch das gekonnt hätte, es hatte mit meinem Mann nichts zu tun. Unter „glücklich“ verstehe ich wie Du einen inneren Zustand, eine Haltung, eine Befindlichkeit und nicht das Vorhandensein bestimmter äußerer Bedingungen. Und ja, diese innere Haltung des Nicht-Einverständnisses mit mir selbst, das hat auch mein Mann nicht verändern können. Meine Glücksfähigkeit war daher nicht besonders ausgeprägt (ausgenommen ein punktuelles Glücksempfinden).
Was heißt nun „gut“ gemacht? Ich hätte so gerne ein anderes Wort dafür gewählt, damit Du besser verstehst, was ich meine, aber es gibt kein richtigeres Wort dafür. Mein Leben hatte einen Sinn, es war nicht umsonst. Das heißt „gut“ gemacht. Irgendwann im Laufe der letzten Jahre muß der Sinn, der aus der Vergangenheit die Gegenwart noch eingeschlossen hat, verloren gegangen sein. Derzeit empfinde ich mein Leben daher als sinn-los, es ist umsonst. Wahrscheinlich ist nun die Suche der Sinn. Deine Frage, ob ich damit mein ganzes Leben für umsonst gelebt halte –wenn ich dies so klar formuliere, zieht es selbst mir die Schuhe aus- die kann ich nicht beantworten.
Einleuchtend finde ich die Unmöglichkeit, zwischen sinnlos und sinnvoll Abstufungen vorzunehmen. Mehr oder weniger sinnlos bzw. sinnvoll geht nicht, was sollten die Zwischentöne sein ...?
*Ähnlich wie oben. Ich lese heute, was ich schrieb und es kommt mir vor, als hätte ich hier an mir selber vorbeigeschrieben. Schon mein „einleuchtend finde ich“ klingt so, als habe ich Dich überzeugen wollen ...? Es ist nicht falsch, was ich über den Sinn sage, aber es ist so abstrakt. Mir fehlt die Verbindung zum Glücklich- bzw. Unglücklichsein, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. In dieser Hinsicht endet mein Brief also mit derselben Unklarheit, mit der ich meinen letzten Brief beendet habe.
Eine ebenfalls kurz entschlossen geschriebene Ergänzung zu Deinem „alles andere zählt nicht“, weil mir spontan nach Widerrede war, ich aber nicht wusste, warum. Wenn ich mein Unglücklichsein erträglicher machen kann (wie ich in meinem e-mail-Brief sagte), das Einzige, das in meiner Macht steht, dann gehören alle Menschen und alle Umstände, die es mir erträglicher machen, zu den „Dingen“, die „zählen“, die ihren Wert und ihr Gewicht daher beziehen, mein Leben erträglicher zu machen.
F.
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