Diesen Weg
geht niemand
an diesem Herbstabend.
Bashô
Liebe F.,
Ganzheit und Leere
O, da muß ich nachfragen, ob ich nicht etwas verwechsle. Das Lebensgefühl der „abgerundeten Ganzheit“, wie Du es vor über einem Jahr ausgedrückt hattest, um Dein Lebensgefühl während der Ehe zu charakterisieren, das entspricht nicht dem, was Du jetzt „zu einem Ganzen werden“ nennst? Oder doch?
Ich habe herumgesucht, weil ich nicht mehr wusste, was ich damals zu meiner Ganzheitserfahrung geschrieben habe. Und dabei habe ich festgestellt, dass ich das Thema immer mal wieder erwähnt habe, und jedesmal hast du sehr interessiert nachgefragt, was genau ich denn meinte – so, als sei das ein dir unbekanntes Phänomen, über das du gern mehr erfahren würdest. Ist das so?
Aber zu deiner Frage. Spontan würde ich sagen, dass es sich um dieselbe Art von Ganzheit handelt, sie sich aber sehr unterschiedlich anfühlt. Das liegt wohl vor allem daran, dass die Ganzheit während meiner Ehe langsam und wie von selbst gewachsen ist, während ich sie mir jetzt, nach ihrer teilweisen Zerstörung, mühsam erarbeiten muss. Die Selbstverständlichkeit, das Eingebettetsein sind dahin. Dadurch ist sie mir aber auch viel bewusster.
Bewusster ist mir auch, dass diese Ganzheit (von der ich einerseits noch weit entfernt bin, andererseits aber auch wieder nicht) nicht homogen ist, sondern in sich vielfältig. Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das eigentlich selbstverständlich. Trotzdem fühlt sich dieser Gedanke für mich neu an.
Was genau meine ich eigentlich mit Ganzheit? Auf jeden Fall nichts im Sinne von Vollständigkeit oder Fülle („erfülltes Leben“). Oder vielmehr: Das ist nur ein Aspekt davon, und nicht einmal ein besonders wichtiger, auch wenn ich die vielen neu hinzugekommenen oder deutlicher gewordenen Facetten sehr begrüße. Mit Ganzheit meine ich mehr die Harmonie, die Stimmigkeit aller Teile. Und diese Harmonie zeigt sich klarer in der Beschränkung als in der Fülle.
Die Leere, der Raum zum Atmen, zum Ruhigwerden in dem, was ich an und in mir und für mich akzeptiere und willkommen heiße – ach, es ist so schwer, das in Worte zu fassen, aber so ungefähr würde ich heute die Ganzheit beschreiben, die ich meine. (Morgen können es vielleicht ganz andere, aber ebenfalls zutreffende Beschreibungen sein.)
Zugabe
Ich glaube, es ist besonders diese Passage, die mir Deinen gesamten Brief so licht erscheinen lässt. Du drückst darin ungefähr das aus, was mir immer vorschwebte ... spontan würde ich sagen, daß ich in den ganzen 7 Jahren meines Alleinelebens (im Oktober wird das 8. Jahr beginnen) niemals dieses Lebensgefühl hatte. Und ich glaube, es stimmt auch, wenn ich das sage. Vielleicht liegt es daran, daß ich niemals in dieser Zeit das Gefühl hatte, es genügten mir die vorhandenen Beziehungen; die Grundbedürfnisse seien zufriedengestellt, sodaß ich Weiteres nicht mehr will? Ich setze ein Fragezeichen dahinter, weil ich nicht sicher bin, ob meine Erklärung zutreffend ist.
Wichtiger ist mir ein anderer Punkt, den ich schon längere Zeit beobachte, während der Zeit meines Suchens. Die totale Fixierung auf die Suche, die eine Verengung ist, ist gleichzeitig eine Öffnung für die Welt, genauer, für die mir begegnenden Menschen, die für mich völlig neu ist. Erklären tue ich es mir so, daß ich für meine Suche in die Welt, d.h. nach draußen gehen und meine Augen öffnen muß. Und ein Zweites, das mir zu Deinem „nicht wollen“ einfällt: Da ich „eigentlich“ eine Liebe will, sind alle anderen Menschen, denen ich neu begegne, wie eine Art von Zugabe, weil ich von ihnen nichts will. Die negative Auswirkung ist die, daß die positive Seite, d.h. die Entwicklung zu mehr Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, keinen Wert für sich hat.
Du sprichst im ersten Absatz von den Grundbedürfnissen. Spontan dachte ich: Mein Grundbedürfnis ist das Alleinsein. Ich bin mir nicht sicher, wie grundlegend das tatsächlich ist, aber ich lasse das für heute als einen Montaigneschen bunten Fetzen einfach mal so flattern.
Daraus ergibt sich ein seltsames Wechselspiel mit der Welt: Da mein „Grundbedürfnis“ schon erfüllt ist, ist für mich tatsächlich jede Begegnung (es sind nur wenige, nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht) eine solche Zugabe, wie du es nennst, und zwar fast immer willkommen und mit „interesseloser“ (weil nichts wollender) Wertschätzung. Ich würde bei mir vielleicht eher von Geschenk als von Zugabe sprechen, da ich ja kein „eigentliches“ Ziel habe. Mein Alleinsein empfinde ich dadurch nicht als gefährdet, sondern bereichert, also kann ich es einfach geschehen lassen und annehmen. Wenn es mir zu viel wird, ziehe ich mich halt zurück in mein Alleinsein. Mein Ausgangspunkt ist deinem also diametral entgegengesetzt.
Auch wenn diese Öffnung in deinen Augen „keinen Wert für sich hat“ – hast du nicht trotzdem das Gefühl, dass sie dich verändert, dein Verhaltensrepertoire erweitert? Ist nicht auch das eine Zugabe? Bei Konzerten sind die Zugaben ja oft die schönsten Stücke, weil sie frei sind von der Anspannung, ob das Konzert wohl auch gelingt.
Zwischentöne
Für mein Leben schließe ich Zwischentöne aus, darauf habe ich mich festgelegt. Das Gegenteil von glücklich ist unglücklich, infolgedessen bin ich unglücklich. Ein Dazwischen gibt es nicht.
Diese Aussage schockiert mich regelrecht. Du hast dich darauf festgelegt – das heißt, das ist eine willentlich getroffene Entscheidung? Wie kann man so etwas wollen?! Oder gehört das mit zu den neuen Tönen der Widerspenstigkeit? „Wenn ich nicht richtig glücklich bin, dann will ich alles andere dazwischen nicht, dann bin ich eben unglücklich!“
Gilt auch die Umkehrung: Wenn du nicht unglücklich bist, dann bist du glücklich – ganz ohne Zwischenstufen?
Für mein Leben … ist das wirklich so umfassend gemeint? Ich könnte ja verstehen, wenn du das nur auf deine jetzige Situation beziehst, die du dir nicht „schönreden“ willst, wie du letztens schriebst, mit Beschwichtigungen wie „Heute ist doch eigentlich ein ganz schöner Tag gewesen“ oder ähnlichem. Nein, du hast eine tiefgehende Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung, und solange die nicht erfüllt ist, zählt alles andere nicht, bleibt nur oberflächlich. So ungefähr? Aber du beziehst das tatsächlich auf dein ganzes Leben?
Nach meinem Gefühl widerspricht das jeglicher „Lebenslogik“. Wenn ich nicht ausgesprochen glücklich bin, dann bin ich meistens vieles andere, aber in den seltensten Fällen unglücklich. Aber vielleicht ist meine Vorstellung von Glück auch eine andere als deine? Ich habe gewiss nicht immer „Glück“ im landläufigen Sinne und lebe auch nicht in einem ständigen Gefühlsüberschwang. Aber ich würde mich als einen Menschen mit einem ziemlich großen Talent zum Glücklichsein bezeichnen. Glück ist für mich mehr die Beschreibung eines inneren Vermögens als äußerer Umstände. Das hat mich in der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes ja so sehr irritiert und verunsichert, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte selbst jetzt noch glücklich sein. Inzwischen bin ich sehr dankbar dafür, dass ich diese Fähigkeit nicht verloren habe.
So verstanden, ist glücklich also eher nicht die Steigerung von zufrieden oder erfüllt. Aber diese Begriffe haben einen so riesigen Bedeutungshof, dass ich sie ohnehin nur schwer definieren kann.
Nur überlege ich aufgrund Deines Begriffs vom „erfüllten Leben“, ob ich auch am Glücklich- oder Unglücklichsein festhalten möchte.
Der weitere Gang dieser Überlegungen würde mich sehr interessieren! 🥾
B.
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