Liebe B.,
Lichtung
Diese Öffnung empfinde ich als eine Art des Sichwehrens gegen jede Form der Festlegung. Dem Blick von außen (meinem Blick) und der damit verbundenen, notwendig einseitigen, willkürlichen, unvollständigen Einordnung setzt du eine Widerspenstigkeit entgegen, die, so kommt es mir vor, deinen inneren Reichtum, die Vielfalt deiner Verhaltensmöglichkeiten beschützt.
Ob ich Deiner Auslegung zustimme, kann ich noch nicht einmal sagen – soweit es die Weigerung ist, mich festlegen lassen zu wollen, ja, dem kann ich zustimmen. Aber um die Vielfalt zu schützen? Ich antworte unentschieden: „ich weiß nicht recht“. Hm, vielleicht ist es lediglich die Kehrseite der Ablehnung einer Festlegung ...? Dann müsste ich zustimmen. Entscheidend für mich ist an Deiner Interpretation, daß sie positiv ist. Das heißt, Du betrachtest mein Verhalten unter dem Aspekt der Lebensförderlichkeit und nicht dem der Lebensverneinung. Das betrifft ja eine generelle Herangehensweise oder besser Sichtweise bei den Verhaltensbewertungen von anderen Menschen ... und auch bei Einschätzungen der eigenen Person.
Übrigens empfinde ich Deinen ganzen Brief auf diese Weise als positiv, denn während des Lesens war mir so, als bekäme ich einen weiten Raum, in dem ich mich entfalten kann.
Und die Widerspenstigkeit zeigt sich auch hier: Vielleicht kommen wir hier gerade wieder etwas zusammen? Denn du stellst ja auch bei mir einen – für dich – neuen Ton fest. Entschieden, bestimmt, nicht mehr harmonisierend – so nennst du es. Also auch eine gewisse Form der Widerspenstigkeit. Für mich ist das allerdings nicht neu, nur habe ich diese Seite hier bisher vielleicht noch nicht so deutlich gezeigt. Diese Mischung aus Unsicherheit und Selbstbeharrlichkeit zieht sich aber schon durch mein ganzes Leben. Das ist mir aber noch nie so richtig klar geworden, erst jetzt, wo ich es hinschreibe.
Ja, die Beharrlichkeit, nur würde ich über Dich sagen, daß die stille (vielleicht manchmal auch im Hintergrund taktierende) Beharrlichkeit eine direktere und lautere Form angenommen hat ... genauer gesagt, daß Du sie dahin entwickelt hast.
[...] Und dieses Empfinden, nun „singulär“ zu sein, trägt bestimmt dazu bei, dass ich neue Seiten an mir entdecke bzw. vorhandenen, aber früher nur eingeschränkt ausgelebten Wesenszügen nun mehr Raum gebe. Es ist paradox: Ich habe mit meinem Mann meine andere Hälfte verloren, werde dadurch aber immer mehr zu einem Ganzen. Oder vielleicht besser: Ich fülle den leeren Raum nach und nach. Das hatten wir ja schon mal ganz zu Anfang, das Bild des vom Sturm geschädigten Baumes, der neu austreibt und versucht, die gerissenen Lücken zu füllen.
O, da muß ich nachfragen, ob ich nicht etwas verwechsle. Das Lebensgefühl der „abgerundeten Ganzheit“, wie Du es vor über einem Jahr ausgedrückt hattest, um Dein Lebensgefühl während der Ehe zu charakterisieren, das entspricht nicht dem, was Du jetzt „zu einem Ganzen werden“ nennst? Oder doch?
Dieses Unwohlsein allein auf einer Veranstaltung kenne ich auch, aber das hatte ich auch schon zu Lebzeiten meines Mannes, wenn ich also irgendwo allein hinging, weil mein Mann etwa keine Lust hatte und lieber zu Hause blieb. Es ist ein allgemeines Unwohlsein in einer begrenzten Öffentlichkeit – ja, die Begrenzung ist wichtig, denn auf der Straße beispielsweise oder im Park habe ich dieses Gefühl nicht. Und es kann auch eine andere Person als mein Mann an meiner Seite sein – Schwester, Freundin, Bekannter, Kollegin – um dieses Unwohlsein zu lindern. Deine Gründe (ohne Mann und ungeliebt) treffen es für mich also nicht. Allerdings ist natürlich meine Motivation, irgendwohin zu gehen, eine ganz andere als deine: Ich gehe wegen der jeweiligen Veranstaltung hin, nicht um einen Mann kennenzulernen.
Ich riskiere jetzt, daß Du meine Antwort als einen „Übergriff“ zurückweist. „Unwohlsein“ hüllt aus meiner Sicht die Gründe in einen Dunst. Deine Gründe, die das „Unwohlsein“ bedingen, kann ich nicht kennen, aber ich bin sicher, daß es sie gibt. Ich nehme wohl am besten ein Beispiel von mir, um zu verdeutlichen, worauf ich hinaus will. Über die Gründe, warum ich mich in „small talk“-Grüppchen unwohl fühle, habe ich so oft und ausgiebig in unseren Briefen erzählt, daß ich sie nicht erneut anführen möchte. Irgendwann habe ich mich entschieden, daß die Gründe mir schnuppe sind, weil ich nicht gedenke, an mir selber in dieser Hinsicht weiter herumzubasteln. Ich fühle mich derart „unwohl“ in solchen Situationen, daß ich sie meide. Schluß. Dennoch ist „Unwohlsein“, so denke ich darüber, lediglich eine Chiffre, mit der man die dahinter liegenden Gefühle und Gedanken verdeckt.
Das genieße ich im Moment übrigens sehr, nach einer zum Glück schnell vorübergehenden Phase kurz nach dem Tod meines Mannes, in der ich das sehr unangenehme Gefühl hatte, wieder „auf dem Markt“ zu sein: dass ich von niemandem etwas will, also vor allem keine Liebesbeziehung. Das hat ein sehr entspanntes, offenes, zugewandtes Lebensgefühl zur Folge, das in dieser Form neu für mich ist. Neu ist daran vermutlich vor allem die Offenheit. Zu Lebzeiten meines Mannes waren wir so etwas wie eine „geschlossene Gesellschaft“. Wir lebten keineswegs symbiotisch, aber wir genügten einander in hohem Maße.
Ich glaube, es ist besonders diese Passage, die mir Deinen gesamten Brief so licht erscheinen lässt. Du drückst darin ungefähr das aus, was mir immer vorschwebte ... spontan würde ich sagen, daß ich in den ganzen 7 Jahren meines Alleinelebens (im Oktober wird das 8. Jahr beginnen) niemals dieses Lebensgefühl hatte. Und ich glaube, es stimmt auch, wenn ich das sage. Vielleicht liegt es daran, daß ich niemals in dieser Zeit das Gefühl hatte, es genügten mir die vorhandenen Beziehungen; die Grundbedürfnisse seien zufriedengestellt, sodaß ich Weiteres nicht mehr will? Ich setze ein Fragezeichen dahinter, weil ich nicht sicher bin, ob meine Erklärung zutreffend ist.
Wichtiger ist mir ein anderer Punkt, den ich schon längere Zeit beobachte, während der Zeit meines Suchens. Die totale Fixierung auf die Suche, die eine Verengung ist, ist gleichzeitig eine Öffnung für die Welt, genauer, für die mir begegnenden Menschen, die für mich völlig neu ist. Erklären tue ich es mir so, daß ich für meine Suche in die Welt, d.h. nach draußen gehen und meine Augen öffnen muß. Und ein Zweites, das mir zu Deinem „nicht wollen“ einfällt: Da ich „eigentlich“ eine Liebe will, sind alle anderen Menschen, denen ich neu begegne, wie eine Art von Zugabe, weil ich von ihnen nichts will. Die negative Auswirkung ist die, daß die positive Seite, d.h. die Entwicklung zu mehr Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, keinen Wert für sich hat.
Das Leben als Ganzes
[...] ABER! – ich weiß nicht, ob du das bemerkt hast – links steht eine Frau vor einer Staffelei! Als ich das sah, musste es natürlich dieses Bild sein. (Die Frau traut sich was – die Leinwand vor ihr ist riesig!) Gut, in dieser Situation kopiert sie natürlich nur, aber wie du zutreffend sagst: Man sollte die Analogien nicht überstrapazieren. – Aber vielleicht ist das gar nicht so überstrapaziert? Das Kopieren wären dann die Vorbilder, an denen ich mein Selbstbild ja durchaus auch ausrichte. Nicht nur als kleines Kind werde ich von Vorbildern geprägt; auch später, auch jetzt noch sind es zu einem nicht unerheblichen Teil Rollenvorbilder, die mich beeinflussen, sei es im Nacheifern, sei es in der Ablehnung. Ich habe nach dem Tod meines Mannes ja nicht von ungefähr etliche Bücher gelesen, in denen alleinlebende Menschen über sich berichten – ich suchte nach Bestätigung, dass das zu schaffen war, dass man trotz Phasen der Niedergeschlagenheit, der Sehnsucht, der Einsamkeit allein ein erfülltes, zufriedenes, vielleicht sogar glückliches Leben führen kann.
Dochja, die Frau! mit der Staffelei habe ich bemerkt und auch Deine Idee, den fertigen Selbstbildern ein selbstgemaltes Bild hinzuzufügen habe ich nicht überlesen; jetzt rückblickend glaube ich, daß mir die Fülle der fertigen Gemälde (Selbstbilder) vollauf gereicht hat, und ich deswegen dazu geschwiegen habe.
Hast Du von irgendeinem Mann oder einer Frau gelesen, die ihr Leben alleine als „glücklich“ bezeichneten?
Ins Überlegen bringt mich allerdings Deine Begrifflichkeit, das Glücklichsein als die Steigerungsform der Zufriedenheit und des Erfülltseins. Für mein Leben schließe ich Zwischentöne aus, darauf habe ich mich festgelegt. Das Gegenteil von glücklich ist unglücklich, infolgedessen bin ich unglücklich. Ein Dazwischen gibt es nicht. Nur überlege ich aufgrund Deines Begriffs vom „erfüllten Leben“, ob ich auch am Glücklich- oder Unglücklichsein festhalten möchte. Wir haben anfangs, soweit ich es erinnere, öfter thematisiert, was denn genau den Unterschied von einem Leben mit dem Ehemann und einem Leben alleine ausmacht. Damals meine ich, hätte ich den Begriff „Sinn“ gebraucht, ein Wort, mit dem Du nichts anfangen kannst. „Sinn“ kommt aber, glaube ich, dem „Erfülltsein“ so nahe wie kein anderes Wort. Ach, ich weiß nicht, ob dies nicht unnütze Wortklauberei ist, die, weil sie nicht weiterführt, unnütz ist. Du hast „glückliches Leben“ geschrieben und das eigene Leben als glücklich zu bezeichnen bedeutet nicht, in jedem Moment glücklich zu sein. Dasselbe gilt für „erfüllt“ und „zufrieden“. Du hast die Bezeichnungen in einen größeren Rahmen gestellt, den der Betrachtung des Lebens als Ganzes und nicht für jeden einzelnen Lebensmoment.
F.
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