
Ausschnitt aus: Giuseppe Castiglione (1829–1908): Der Salon Carré im Louvre, 1861
(Paris, Louvre. Quelle: wikipedia)
Liebe F.,
Widerspenstig
Von der „anderen“ weiß man nur eines, sie „singt nicht“. Alles andere bleibt vollkommen offen. Meinen Part, den Du so zusammengefasst hattest: „du verharrst im Unglück“, hatte ich damit öffnen wollen für jede Art von Interpretation. Insbesondere dem „Verharren“ hatte ich weder zustimmen noch ihm widersprechen wollen.
Diese Öffnung empfinde ich als eine Art des Sichwehrens gegen jede Form der Festlegung. Dem Blick von außen (meinem Blick) und der damit verbundenen, notwendig einseitigen, willkürlichen, unvollständigen Einordnung setzt du eine Widerspenstigkeit entgegen, die, so kommt es mir vor, deinen inneren Reichtum, die Vielfalt deiner Verhaltensmöglichkeiten beschützt. Und die Widerspenstigkeit zeigt sich auch hier:
Ich will nicht beschönigen, beschwichtigen, übertünchen, weichspülen, glattbügeln. Ich betrachte solche Situationen gerne genau und möchte sie benennen. Scham? Alleine? Ohne Mann? Ungeliebt? Das hört sich verquer unemanzipatorisch an. Dann ist es das!
Vielleicht kommen wir hier gerade wieder etwas zusammen? Denn du stellst ja auch bei mir einen – für dich – neuen Ton fest. Entschieden, bestimmt, nicht mehr harmonisierend – so nennst du es. Also auch eine gewisse Form der Widerspenstigkeit. Für mich ist das allerdings nicht neu, nur habe ich diese Seite hier bisher vielleicht noch nicht so deutlich gezeigt. Diese Mischung aus Unsicherheit und Selbstbeharrlichkeit zieht sich aber schon durch mein ganzes Leben. Das ist mir aber noch nie so richtig klar geworden, erst jetzt, wo ich es hinschreibe.
Übrigens passt dazu, wie ich finde, auch die Bestimmung Deines Status als „singulär“. Wenn man sagt, man sei verwitwet, dann ist das eine Bestimmung vom „Anderen“ her, von dem her, was nicht (mehr) ist, d.h. es ist die Statusfestlegung als ein Reduziertes. „Singulär“ hingegen ist eine Bestimmung, die ein eigenständiges Ganzes ausdrückt.
Das hatte ich gar nicht beabsichtigt, aber es passt sehr gut. Und dieses Empfinden, nun „singulär“ zu sein, trägt bestimmt dazu bei, dass ich neue Seiten an mir entdecke bzw. vorhandenen, aber früher nur eingeschränkt ausgelebten Wesenszügen nun mehr Raum gebe. Es ist paradox: Ich habe mit meinem Mann meine andere Hälfte verloren, werde dadurch aber immer mehr zu einem Ganzen. Oder vielleicht besser: Ich fülle den leeren Raum nach und nach. Das hatten wir ja schon mal ganz zu Anfang, das Bild des vom Sturm geschädigten Baumes, der neu austreibt und versucht, die gerissenen Lücken zu füllen.
Da ich mich als Deine Freundin verstehe, bin ich zuerst brüskiert gewesen – dies aber nur für einen Moment, weil ich ziemlich schnell selber –über meine Reaktion- habe lachen müssen.
Dann ist es ja gut! :-) Ich hatte an dieser Stelle kurz gezögert, denn mir war ja bewusst, dass ich mich hier vor allem auf dich bezog. Aber ein kurzes Nachdenken zeigte mir, dass es sich tatsächlich so verhält: Ich fühle mich auch dir gegenüber frei genug, um „für mich allein“ zu handeln, also ohne das Gefühl, mich dabei in einem Beziehungsgeflecht zu befinden.
Wo indes noch reichlich Luft nach oben ist, das sind Veranstaltungen, in geschlossenen Räumen!, Veranstaltungen wie Konzerte oder auch Ausstellungen (insbesondere in kleineren Räumlichkeiten). Ich trete dort oder besser ich muß dort alleine auftreten, weil ich keinen Mann habe. Weil ich alleine bin. Weil niemand mich liebt.
Dieses Unwohlsein allein auf einer Veranstaltung kenne ich auch, aber das hatte ich auch schon zu Lebzeiten meines Mannes, wenn ich also irgendwo allein hinging, weil mein Mann etwa keine Lust hatte und lieber zu Hause blieb. Es ist ein allgemeines Unwohlsein in einer begrenzten Öffentlichkeit – ja, die Begrenzung ist wichtig, denn auf der Straße beispielsweise oder im Park habe ich dieses Gefühl nicht. Und es kann auch eine andere Person als mein Mann an meiner Seite sein – Schwester, Freundin, Bekannter, Kollegin – um dieses Unwohlsein zu lindern. Deine Gründe (ohne Mann und ungeliebt) treffen es für mich also nicht. Allerdings ist natürlich meine Motivation, irgendwohin zu gehen, eine ganz andere als deine: Ich gehe wegen der jeweiligen Veranstaltung hin, nicht um einen Mann kennenzulernen.
Das genieße ich im Moment übrigens sehr, nach einer zum Glück schnell vorübergehenden Phase kurz nach dem Tod meines Mannes, in der ich das sehr unangenehme Gefühl hatte, wieder „auf dem Markt“ zu sein: dass ich von niemandem etwas will, also vor allem keine Liebesbeziehung. Das hat ein sehr entspanntes, offenes, zugewandtes Lebensgefühl zur Folge, das in dieser Form neu für mich ist. Neu ist daran vermutlich vor allem die Offenheit. Zu Lebzeiten meines Mannes waren wir so etwas wie eine „geschlossene Gesellschaft“. Wir lebten keineswegs symbiotisch, aber wir genügten einander in hohem Maße.
Vorbilder
Wie es mir erging, als ich das kurze Montaigne-Zitat von den „buntscheckigen Fetzen“ las, veranschaulicht der Louvre-Saal von Castiglione wirklich toll, finde ich. Mir wurde vor lauter Fülle und Unübersichtlichkeit (meiner eigenen Person) fast ein bisschen schwindelig-übel. „Wie wenn“ man sich beim Sufi-Tanzen um die eigene Achse dreht und die Augen keinen Fixpunkt finden. Deine Modifikation des Gemäldes, nicht jedes der Selbstbilder stelle ein in sich abgeschlossenes Ganzes dar, sondern nur Facetten, die sich insgesamt dann zu einem Ganzen zusammenfügen, nimmt der „Sache“ das schwindelerregende Moment. Bemerkenswert finde ich übrigens die Wucht des Raumes, die die Menschen winzig und wie verloren erscheinen lässt. Übersetzt auf die Facetten des Selbstbildes würde dies bedeuten, sie bestimmen uns ...? An der Stelle endest Du häufig mit den Worten, man solle oder müsse die Übertragbarkeit –der Bilder- nicht überziehen. So ist es :-))).
Ja, allerdings, so ist es. :-) Mir gefällt das Bild übrigens gar nicht besonders, es gibt schönere Galeriegemälde, dies hier ist wirklich sehr bombastisch, es fällt wohl eher in die Kategorie „Salonmalerei“. ABER! – ich weiß nicht, ob du das bemerkt hast – links steht eine Frau vor einer Staffelei! Als ich das sah, musste es natürlich dieses Bild sein. (Die Frau traut sich was – die Leinwand vor ihr ist riesig!) Gut, in dieser Situation kopiert sie natürlich nur, aber wie du zutreffend sagst: Man sollte die Analogien nicht überstrapazieren. – Aber vielleicht ist das gar nicht so überstrapaziert? Das Kopieren wären dann die Vorbilder, an denen ich mein Selbstbild ja durchaus auch ausrichte. Nicht nur als kleines Kind werde ich von Vorbildern geprägt; auch später, auch jetzt noch sind es zu einem nicht unerheblichen Teil Rollenvorbilder, die mich beeinflussen, sei es im Nacheifern, sei es in der Ablehnung. Ich habe nach dem Tod meines Mannes ja nicht von ungefähr etliche Bücher gelesen, in denen alleinlebende Menschen über sich berichten – ich suchte nach Bestätigung, dass das zu schaffen war, dass man trotz Phasen der Niedergeschlagenheit, der Sehnsucht, der Einsamkeit allein ein erfülltes, zufriedenes, vielleicht sogar glückliches Leben führen kann.
Unübersichtlich, sagst du … ja, sowohl Montaignes Fetzen als auch Castigliones Bild haben etwas Wirres, Willkürliches an sich. Vor allem bei Montaigne vermisse ich einen Zusammenhalt, einen Rahmen. Die umherflatternden buntscheckigen Fetzen fügen sich so, wie er es beschreibt, nicht zusammen. So möchte ich nicht sein, bei aller Freiheit, die das Bild eröffnet, und so empfinde ich mich auch nicht. Aber vielleicht sollte man auch dieses Bild nicht überstrapazieren. :-)
B.
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