Liebe F.,
mir ist nicht klar, wieso du Lebensgefühl und vermeintliche Fremdwahrnehmung trennst. Du schreibst doch über dich selbst:
In meiner Vorstellung lasse ich die Anderen also über mich denken, wie ich selber über mich denke.
Und dieses Selbstbild wird doch vermutlich von deinem Lebensgefühl geprägt sein, oder nicht?
Um noch verständlicher zu machen, was ich meine, möchte ich Dich an Deine Erwähnung einer Lady in einer Episode von Inspektor Barnaby erinnern, in der Du das Vorbild der von Dir imaginierten unabhängigen Frau entdeckt hattest. Das Entscheidende, so erinnere ich es zumindest, war gar nicht das Lebensgefühl dieser Frau, sondern die Wahrnehmung und das Urteil einer anderen Person/Figur (des Filmes) über diese Frau. Du hattest Dich (Deine Vorstellung von Dir in einer unbestimmten Zukunft) unter dem Blick eines anderen Menschen gesehen: „Eine interessante Frau“.
Für mich war das Entscheidende beim Barnaby-Beispiel tatsächlich das veränderte Lebensgefühl, das es der Frau ermöglichte, sich einer Situation auszusetzen, in der sie sich früher vermutlich mehr als unwohl gefühlt hätte, nämlich allein eine Kreuzfahrt zu unternehmen. Früher hätte sie sich vielleicht – genau wie du auf der Straße – „abgeurteilt“ gefühlt als alleinreisende und deshalb bedauernswerte, einsame Frau. Jetzt aber, mit ihrem veränderten Lebensgefühl, imaginierte sie sich eine völlig andere Fremdwahrnehmung, nämlich als alleinreisende und deshalb geheimnisvolle, interessante Frau. Sie würde über Deck gehen, und die Blicke der anderen wären ihr nicht unangenehm, sondern sie würde sie genießen; ihre ganze Ausstrahlung würde sich dadurch verändern, sodass es im besten Fall eine Rückkopplung gäbe: Die Leute treten ihr nicht mitleidig, sondern z. B. neugierig gegenüber, und dadurch würde sie sich immer sicherer und stärker fühlen.
Natürlich muss man in solch ein Verhalten erst einmal hineinwachsen, eine solche Umstellung bewerkstelligt man nicht von heute auf morgen, und es würde gewiss auch Rückschläge geben, also Situationen, in denen sie sich doch wieder unsicher fühlt. Aber mit der Zeit verschmelzen Lebensgefühl und Ausstrahlung immer mehr miteinander, bis sie eine Einheit bilden. – Das wäre ein Ziel für mich!
Ich muss mich übrigens an einem Punkt korrigieren, das ist mir jetzt beim Schreiben klar geworden: Als ich nämlich schrieb, es würde mich nicht besonders interessieren, wie die anderen mich sehen, da bin ich nur von vertrauten Situationen ausgegangen. Ich gehe durch die Stadt, zur Arbeit, zum Einkaufen, ich sitze in der Mittagspause im Restaurant (na ja, jetzt zu Coronazeiten leider nicht), ich gehe spazieren – lauter Sachen, die ich mein Leben lang schon mal allein, mal mit meinem Mann zusammen gemacht habe. Da fühle ich mich sicher, auf gewohntem Terrain, da bewege ich mich meistens unbefangen und kümmere mich um keine Fremdwahrnehmung, die ist mir dann tatsächlich egal.
Es ist für mich aber im Moment noch ein nahezu unvorstellbares Unterfangen, z. B. allein in den Urlaub zu fahren. Und auch Konzert- und Museumsbesuche würden mir noch schwerfallen. Ich denke, das ist eine Frage der Überwindung und Gewöhnung (die wegen Corona noch nicht hat stattfinden können – leider oder zum Glück?), ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit ich mich da gewöhnen will oder ob ich vor diesem Schritt hinaus in ein selbstbestimmtes Leben nicht doch Angst habe, solche Situationen also in Zukunft meiden werde. Aber das wird sich zeigen …
Die „ruhende Ganzheit“, von der Du gesprochen hattest, ist mit dem Tod Deines Mannes verlorengegangen. Das ist unabänderlich. Und nun siehst Du den zukünftigen Weg darin, diese oder die? Ganzheit neu mit Dir alleine wiederzuerlangen, weil dies zu verändern ist. Das Fragezeichen setze ich, weil ich eben während des Schreibens die Unklarheit bemerke, ob es sich um dieselbe oder eine veränderte Form der Ganzheit handelt. An dieser Stelle wäre möglicherweise hilfreich, das Phänomen des „erweiterten Ich“ näher ins Auge zu fassen?
Ja, das ist ein Thema für das „erweiterte Ich“, deshalb gehe ich hier nicht weiter darauf ein.
Dich als verheiratete Frau zu sehen, verknüpfst Du mit dem Andauern der Trauer- und Schmerzphase. Erst, wenn diese Zeit irgendwann vorübergegangen sein wird, dann wird sich auch Dein Selbstverständnis, verheiratet zu sein, auflösen. Beides gehört zusammen. Und nun erst wird mir auch die „geschiedene Frau“ als Vorbild-Typus so recht begreifbar, weil sie es ist, die nicht trauert.
Mit dem letzten Satz hast du Recht, genauso war es gemeint. Dadurch bekommt das Beispiel aber auch etwas Hinkendes, denn ich trauere ja nun einmal, mein Ausgangspunkt ist also ein anderer, es lässt sich deshalb nicht 1:1 übertragen. Aber so ist das bei Beispielen nun einmal, das macht ja auch nichts.
Beim ersten Punkt zögere ich allerdings mit meiner Zustimmung. Mich weiterhin als verheiratete Frau zu fühlen hat nicht (nur) etwas mit der anhaltenden Trauerphase zu tun, mehr mit dem selbstverständlichen Lebensgefühl der letzten 40 Jahre, das ich nicht so einfach ablegen kann. Auch bei mir ist das mit einem gewissen „Wertgefühl“ verbunden, aber es fällt mir schwer, diesen Wert genau zu benennen. Etwas Konservativ-Unemanzipatorisches schwingt da auf jeden Fall auch mit! 😊 Aber das ist es nicht allein … Ich glaube, das vermischt sich ein wenig mit dem Thema des „erweiterten Ichs“ (mein Mann ist sozusagen immer noch „an meiner Seite“), deshalb führe ich das hier nicht weiter aus.
Jedenfalls ist meine Vorstellung diese, dass mit dem Hineinwachsen in meine neue Rolle als Single dieses Gefühl allmählich schwächer werden wird. Es darf aber gern als Teil meiner Geschichte bleiben, es ist also nicht mein Ziel es aufzulösen.
B.
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