Brief 7 | Kontrast-Bild

Liebe B.,

ich möchte so gerne mit Dir zusammen einen Faden entwirren und schreibe Dir heute, wie weit ich selber gekommen bin.

 

Für mich war das Entscheidende beim Barnaby-Beispiel tatsächlich das veränderte Lebensgefühl, das es der Frau ermöglichte, sich einer Situation auszusetzen, in der sie sich früher vermutlich mehr als unwohl gefühlt hätte, nämlich allein eine Kreuzfahrt zu unternehmen. Früher hätte sie sich vielleicht – genau wie du auf der Straße – „abgeurteilt“ gefühlt als alleinreisende und deshalb bedauernswerte, einsame Frau. Jetzt aber, mit ihrem veränderten Lebensgefühl, imaginierte sie sich eine völlig andere Fremdwahrnehmung, nämlich als alleinreisende und deshalb geheimnisvolle und interessante Frau. Sie würde über Deck gehen, und die Blicke der anderen wären ihr nicht unangenehm, sondern sie würde sie genießen; ihre ganze Ausstrahlung würde sich dadurch verändern, sodass es im besten Fall eine Rückkopplung gäbe: Die Leute treten ihr nicht mitleidig, sondern z. B. neugierig gegenüber, und dadurch würde sie sich immer sicherer und stärker fühlen.

 

Dieses Beispiel habe ich, wie ich meine, nun verstanden. Der Blick anderer, die „Fremdwahrnehmung“, wie Du es nennst, ist für die Frau unerheblich, eine Randerscheinung, die lediglich als Verstärker ihres Lebensgefühls dient.

 

Im Folgenden kommt das Gegen-Bild, in dem auch ich mich sofort wiederfinde. Ich greife die Reisesituation auf, weil sie auch aus meiner Sicht die größte Herausforderung darstellt, und weil sie die Negativfolie zur Kreuzfahrt-Episode bildet (die Reisesituation ist viel besser als die von mir gewählte Situation „auf der Straße“, weil sie schärfer konturiert).

 

Ich muss mich übrigens an einem Punkt korrigieren, das ist mir jetzt beim Schreiben klar geworden: Als ich nämlich schrieb, es würde mich nicht besonders interessieren, wie die anderen mich sehen, da bin ich nur von vertrauten Situationen ausgegangen. [...] Da fühle ich mich sicher, auf gewohntem Terrain, da bewege ich mich meistens unbefangen und kümmere mich um keine Fremdwahrnehmung, die ist mir dann tatsächlich egal.

Es ist für mich aber im Moment noch ein nahezu unvorstellbares Unterfangen, z. B. allein in den Urlaub zu fahren. Und auch Konzert- und Museumsbesuche würden mir noch schwerfallen. Ich denke, das ist eine Frage der Überwindung und Gewöhnung (die wegen Corona noch nicht hat stattfinden können – leider oder zum Glück?), ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit ich mich da gewöhnen will oder ob ich vor diesem Schritt hinaus in ein selbstbestimmtes Leben nicht doch Angst habe, solche Situationen also in Zukunft meiden werde. Aber das wird sich zeigen … (die Unterstreichung ist von mir, F.).

 

Das Lebensgefühl: Alleine reisen? Mit niemandem kann ich meine Eindrücke teilen. Soll ich zu mir selber sagen „sieh mal da“, „ist das nicht herrlich“, „was unternehmen wir morgen“, „was interessiert dich“, „wollen wir morgen“ usw. usf., und dann der Fremdblick: Frühstück, Mittag, Abendessen, täglich dreimal am Tag den Speisesaal betreten, ob alleine oder mit einer anderen Person am Tisch plaziert, spätestens beim dritten Mal wissen alle, dass ich alleine bin. Nur bei der Vorstellung schon werde ich blaß im Gesicht und merke eine Art von leichtem Schwindel (ich schreibe als ich, F.). Das Auffällige ist nun aber, dass in dieser Situation, in der Du von Deiner gegenwärtigen Befindlichkeit ausgehst, die Fremdwahrnehmung einen anderen, einen höheren Stellenwert einnimmt als beim positiven Beispiel der Frau auf dem Schiff. Was ist der Unterschied?

 

Für die Frau auf dem Kreuzfahrtschiff ist charakteristisch, dass sie vollkommen glücklich und zufrieden mit sich alleine ist. Sie braucht zu ihrem Glück die anderen Menschen überhaupt nicht. Für die Frau(en), die Du und ich derzeit sind, ist charakteristisch, dass wir alleine nicht vollkommen glücklich und zufrieden sind. Wir brauchen andere Menschen zu unserem Glück.  

Nun könnte man zwar sagen, nein, es geht nicht um irgendwelche Reisebegleiter, sondern darum, dass ich (Du oder ich) mit meinem Mann reisen möchte. Von meiner Intuition her glaube ich allerdings, dass dies nicht die richtige Spur ist, weil sie zwar erklärt, warum ich auf der Reise unglücklich bin (so ich mich traue, sie zu machen) aber sie erklärt nicht, warum auf einmal wichtig wird, wie die anderen Menschen mich bei dieser Reise sehen. Das könnte mir völlig egal sein, wenn ich traurig bin, weil mein Mann nicht bei mir ist.

 

Bis zu dieser Stelle bin ich gekommen, und die Frage ist für mich nun die, warum, wenn wir uns alleine fühlen und andere Menschen brauchen, die Fremdwahrnehmung auf einmal Bedeutung gewinnt und auch, warum wir uns dann eher mit „negativem“ Blick („mitleidig“) angesehen fühlen. Jedenfalls nicht so, wie die Frau auf dem Kreuzfahrtschiff sich von Anderen angesehen fühlt.          

 

Mein Brief ist etwas unpersönlich geraten, das weiß ich, aber ich bin wie „besessen“ davon, diese Fremdwahrnehmungsgeschichte für mich zu klären. Falls Du meinen ganzen Ansatz für verfehlt hältst, dann sage es bitte.

F.

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