Liebe B.,
Tatsächlich spielt der Blick von außen für mich keine große Rolle. Erstens interessiert es mich nicht besonders, wie die Leute mich sehen, [...]. (Mich wundert übrigens, dass du dich von deinen Mitmenschen in Besitz genommen fühlst. Ist es nicht meistens eher so, dass man unsichtbar für die anderen ist?)
Ich gehe auf der Straße und denke mir, wie andere Menschen –mich ansehend- über mich urteilen. Bei genauerer Überlegung handelt es sich selbstverständlich um vermeintliche Urteile, da ich ja überhaupt nicht weiß, wie andere, mir fremde Menschen, über mich denken (abgesehen davon, dass es sich ganz sicher in den meisten Fällen so verhält, wie Du schreibst: niemand denkt „etwas“ über mich, weil ich un-gesehen bleibe). In meiner Vorstellung lasse ich die Anderen also über mich denken, wie ich selber über mich denke. Sofern es dabei um positive Meinungen ginge, würde ich diese Sätze hier gar nicht schreiben. Tatsächlich aber sind es ausschließlich negative Bewertungen (nur ein prägnantes Beispiel: „die einsame Frau“). Eine mit Scham belegte Tatsache oder auch Meinung, die mir wie ein Verdikt vorkommt, dem ich mich unterwerfe. Die Reflexion verhindert nun jedoch nicht meine alltägliche, die unreflektierte Erfahrung, auf der Straße zu gehen und mich von den Blicken anderer Menschen abgeurteilt zu fühlen. Auf der Reflexionsebene müsste ich so formulieren: Ich fühle mich von meinen eigenen negativen Urteilen in Besitz genommen.
Um noch verständlicher zu machen, was ich meine, möchte ich Dich an Deine Erwähnung einer Lady in einer Episode von Inspektor Barnaby erinnern, in der Du das Vorbild der von Dir imaginierten unabhängigen Frau entdeckt hattest. Das Entscheidende, so erinnere ich es zumindest, war gar nicht das Lebensgefühl dieser Frau, sondern die Wahrnehmung und das Urteil einer anderen Person/Figur (des Filmes) über diese Frau. Du hattest Dich (Deine Vorstellung von Dir in einer unbestimmten Zukunft) unter dem Blick eines anderen Menschen gesehen: „Eine interessante Frau“. Ich vermute, bin mir aber nicht sicher, dass „wir“ –im generalisierten Sinne, nicht speziell Du oder ich- über die Zuschreibung vermittels der Blicke von Außen, klarer erkennen, wie wir selber uns sehen oder sehen möchten (bezogen auf Dein Beispiel).
Nun die beiden Punkte, von denen ich meine, dass ich sie endlich begriffen habe:
Das Alleinsein hingegen ist für mich neu und der Punkt, an dem ich arbeite. Ich bin schon immer gern allein gewesen, es macht mir also nichts aus, z. B. jeden Tag allein in der Wohnung zu sein. Aber wenn ich den Begriff des Lebensgefühls aufnehme, so würde ich sagen, dass ich mich in meinem neuen Leben noch nicht heimisch fühle. Dazu brauche ich nicht die anderen Menschen (wobei es natürlich von enormer Bedeutung ist, dass es Menschen in meinem Leben gibt, die mir wichtig sind und denen ich wichtig bin), sondern dass muß aus mir selbst kommen.
Die „ruhende Ganzheit“, von der Du gesprochen hattest, ist mit dem Tod Deines Mannes verlorengegangen. Das ist unabänderlich. Und nun siehst Du den zukünftigen Weg darin, diese oder die? Ganzheit neu mit Dir alleine wiederzuerlangen, weil dies zu verändern ist. Das Fragezeichen setze ich, weil ich eben während des Schreibens die Unklarheit bemerke, ob es sich um dieselbe oder eine veränderte Form der Ganzheit handelt. An dieser Stelle wäre möglicherweise hilfreich, das Phänomen des „erweiterten Ich“ näher ins Auge zu fassen?
Jetzt würde ich die Sache um 180 Grad drehen. Dass du dich im Laufe der Zeit immer weniger als „verheiratete“ Frau gesehen hast, wäre für mich eine Entwicklung zu mehr Unabhängigkeit, zu einem eigenen Leben. Ich stelle mir vor, dass mir durch diese Entwicklung mein Idealbild nicht abhandenkommen würde, sondern mir dadurch überhaupt erst die Möglichkeit gegeben wird es zu verwirklichen.
Dich als verheiratete Frau zu sehen, verknüpfst Du mit dem Andauern der Trauer- und Schmerzphase. Erst, wenn diese Zeit irgendwann vorübergegangen sein wird, dann wird sich auch Dein Selbstverständnis, verheiratet zu sein, auflösen. Beides gehört zusammen. Und nun erst wird mir auch die „geschiedene Frau“ als Vorbild-Typus so recht begreifbar, weil sie es ist, die nicht trauert.
Ich hingegen entdecke jetzt das „missing link“ meines letzten Briefes. Aus dem Status der verheirateten Frau -eine Frau, die sich auch nach dem Tod ihres Mannes als verheiratet versteht- beziehe ich meinen Wert. Das ist eine alleräußerste Zuspitzung, die jeden emanzipatorischen Elementes entbehrt :-))). Darüberhinaus kämen mir vermutlich auch noch weitere Wert verleihende Aspekte in den Sinn, die ich allerdings, da sie mir spontan nicht einfallen wollen, wie an den Haaren herbeigezogen empfände. Aus diesem Grunde möchte ich es bei der provokanten Feststellung belassen, provokant schon deswegen, weil sie meinen Trotz herausfordert.
Ich warte gespannt auf Deinen „Wurf“.
F.
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