Brief 4 | Zukunftsaussichten

Liebe F.,

mir gefällt es immer wieder, dass wir bei aller Ähnlichkeit doch auch in vielem sehr unterschiedlich sind. Beides zusammen macht unseren Briefwechsel so vielfältig und bereichernd. 😊

 

An dieser Stelle ist mir erneut und diesmal noch deutlicher unsere unterschiedliche Herangehensweise bewusst geworden. Du stellst Dir vor, wie „es sich anfühlt“, während ich ein Bild vor mir habe, in dem ich mich wie von außen betrachte. Ich sehe mich die Straße entlanggehen, aufrecht, selbstsicher und nehme die Welt und vor allem auch die anderen Menschen mit meinem Blick in Besitz (meine gegenwärtige Wirklichkeit hingegen ist eher die des in Besitz genommen werdens). Du imaginierst Dich übrigens, im Unterschied zu mir, alleine, fällt mir auf.

Tatsächlich spielt der Blick von außen für mich keine große Rolle. Erstens interessiert es mich nicht besonders, wie die Leute mich sehen, und zweitens gehe ich normalerweise ohnehin „aufrecht und selbstsicher“ durch die Straßen. Das war während meiner Ehe schon so und hat sich danach nicht geändert. So war ich nicht immer, aber inzwischen ist es mir zur zweiten Natur geworden. (Das kann man übrigens üben – mach es spaßeshalber einfach mal, geh aufrecht durch die Straßen und weiche nicht aus – es ist zwar unhöflich und anfangs SEHR gewöhnungsbedürftig, aber auch faszinierend; du wirst sehen, dass die meisten Menschen dir Platz machen werden.) (Mich wundert übrigens, dass du dich von deinen Mitmenschen in Besitz genommen fühlst. Ist es nicht meistens eher so, dass man unsichtbar für die anderen ist?)

Das Alleinsein hingegen ist für mich neu und der Punkt, an dem ich arbeite. Ich bin schon immer gern allein gewesen, es macht mir also nichts aus, z. B. jeden Tag allein in der Wohnung zu sein. Aber wenn ich den Begriff des Lebensgefühls aufnehme, so würde ich sagen, dass ich mich in meinem neuen Leben noch nicht heimisch fühle. Dazu brauche ich nicht die anderen Menschen (wobei es natürlich von enormer Bedeutung ist, dass es Menschen in meinem Leben gibt, die mir wichtig sind und denen ich wichtig bin), sondern das muss aus mir selbst kommen.

 

[…] dass mir das Bild der unabhängigen und selbstbestimmten Frau deswegen abhanden gekommen ist, weil ich mich im Laufe der Zeit immer weniger als „verheiratete“ Frau gesehen habe. Andersherum, das ideale Bild beruhte –fundamental- auf dem Bewusstsein, immer noch verheiratet zu sein. Mein Mann hat mich –unsichtbar- bei jedem Schritt begleitet. Ich habe zwar alleine und dennoch wie „zu Zweit zusammen“ gelebt. Im Laufe der Zeit, als seine Gegenwärtigkeit sich eher zur Anwesenheit seines Abwesendseins entwickelte, da verlor sich das Bild allmählich. Mehr als diese Verknüpfung im Moment verblüfft feststellen, kann ich kaum.

Jetzt würde ich die Sache um 180 Grad drehen. Dass du dich im Laufe der Zeit immer weniger als „verheiratete“ Frau gesehen hast, wäre für mich eine Entwicklung zu mehr Unabhängigkeit, zu einem eigenen Leben. Ich stelle mir vor, dass mir durch diese Entwicklung mein Idealbild nicht abhandenkommen würde, sondern mir dadurch überhaupt erst die Möglichkeit gegeben wird es zu verwirklichen.

 

Ich war bei meinen, wie ich finde, etwas zu eindringlichen Nachfragen wegen des „schwerer und leichter“ zu wenig aufmerksam auf unsere unterschiedlichen Situationen und infolgedessen habe ich Deine Situation nicht angemessen berücksichtigt. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ob der Tod des Ehemannes 1 oder gute 5 Jahre zurückliegt, das ist wohl ein nicht geringer Unterschied.

Als zu eindringlich habe ich dein Nachfragen nicht empfunden. Aber der Unterschied von 1 oder 5 Jahren spielt bestimmt eine Rolle, gerade eben beim letzten Punkt kam mir das wieder zu Bewusstsein. Und ich versuche immer, von diesem Unterschied zu profitieren! Wir sind zwar unterschiedlich, und meine Entwicklung muss nicht wie deine sein. Aber wenn du beschreibst, wie sich bei dir im Laufe der Jahre Dinge verändern, dann ziehe ich daraus die Hoffnung, dass es bei mir vielleicht so ähnlich sein wird.

B.

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