Liebe B.,
Zuerst möchte ich Dir sagen, dass mich Deine „bunten“ Überschriften sehr erfreuen; sie machen leicht und luftig -und ja, die Lust am Spielen kommt bei mir an :-).
Meine Überschriften sind diesmal sehr freihändig gewählt. Von der Introspektion bin ich zum Interieur gesprungen, dem das Exterieur zugeordnet ist. Eigentlich müsste es Extraspektion heißen, nur: Welch ein unklingendes Wort!
Noch ein wenig Interieur
Das ist sehr schön! Ein etwas trauriges, aber gleichzeitig auch friedliches Bild. Und wie wichtig wieder einmal, ein stimmiges Bild gefunden zu haben! Die Traurigkeit, die Einsamkeit, das Verlassenheitsgefühl sind ein Teil deines Lebens und dürfen das auch sein.
Um die richtigen Bilder zu finden, muß man den richtigen Zeitpunkt abwarten. Man kann sie nicht durch Denken (im Kopf) finden, sondern man muß „in sich gehen“, oder von mir aus auch in die Tiefe –das ist schon wirklich seltsam, wie man diesen Vorgang räumlich beschreibt, weil es anders nicht geht? Sieht man das richtige Bild, dann ist der ganze Körper davon ausgefüllt. Es ist wie ein Einklang von Körper, Denken und Gefühl.
Als ich das las, habe ich mich gefragt, ob ich mich eigentlich wirklich verändert habe? Oder ob ich nur Seiten an mir entdeckt habe, die auch schon vorher da waren, aber nie zum Zuge gekommen sind? Irgendwie beides. Ich habe einerseits das Gefühl mich ziemlich stark verändert zu haben, und gleichzeitig das Gefühl, jetzt erst richtig zu mir selbst zu finden. „Werden, die ich bin“ ist ein Satz, den ich sehr mag.
Der Ton oder der Duktus Deiner Briefe hat sich im Laufe der Zeit verändert. Anfangs unsicher, später eine Zeitlang sehr bestimmt und dann wieder weniger entschieden, aber dafür, das finde ich hervorstechend, sicher. Eine Sicherheit, die nicht durch Entschiedenheit betont oder demonstriert werden muß. Die ruhige Gelassenheit allerdings zieht sich durch die Zeiten hindurch – nagut, mehr oder weniger Gelassenheit, nicht immer in derselben Intensität.
Du hast recht, ich habe die Arbeit mit geistig Beeinträchtigten nicht gesucht, sie auch nicht im entferntesten in meinem Horizont gehabt. Insofern weiß ich nicht, ob ich wirklich sagen könnte, ich habe letztlich das gefunden, was ich gesucht habe. Andererseits ist es bestimmt so, dass es Angebote gegeben hat, die ich ebenfalls nicht auf dem Schirm hatte, bei denen ich aber relativ schnell gemerkt hätte, dass es DAS nicht ist, was ich suche, und da bald wieder aufgehört hätte. Also habe ich anscheinend doch etwas gefunden, was zu meiner Suche gepasst hat.
Ja, ich hatte daneben auch einige Aktivitäten begonnen, unter anderem das Tai Chi, aber auch Feldenkrais, Gymnastik, einen Gesprächskreis, Kaffeedienst in der Gemeinde, alles Versuche, die ich nach relativer kurzer Zeit wieder beendet habe, weil, so würde ich es rückblickend sagen, sie einfach nicht das Passende waren. Wenn man sich neu ausprobiert, dann ist es ja auch gut so. Nur würde ich heute nicht mehr so viel wie damals darüber nachsinnen, warum mir etwas nicht gefällt. Es ist so, als könne man über die Gründe des nicht Heimischwerdens das Engagiertsein verändern bzw. antreiben. Oder anders: „Da fühle ich mich nicht wohl. Dann liegt es an mir, und ich muß an mir was ändern“. Jetzt, da ich weiß, dass es auch für mich „Passendes“ gibt, richte ich meinen Blick lieber auf das, was „passend“ sein könnte.
Ich ergänze noch um das Feld der Interessen. Über Dich bin ich zur bildnerischen Kunst zurückgekehrt und die Lust am „Bilder ansehen“ ist dauerhaft. Um Musik, Oper oder Theater hingegen kümmere ich mich nicht.
Ja, das lerne ich im Moment auch sehr intensiv, wenn auch in anderen Zusammenhängen als du, in weniger persönlichen. Bei mir kommt zur größeren Bereitschaft, mich anderen Menschen gegenüber zu öffnen, auch noch die Bereitschaft zur Öffnung gegenüber potentiell unangenehmen Situationen. Ihnen nicht gleich aus dem Weg zu gehen, sondern sie „in der Schwebe lassen zu können“ ist eine gute Beschreibung.
Unsicherheit aushalten können bedarf einer größeren Sicherheit. O, sag’ Du hattest dafür vor vielen Monaten, soweit ich mich erinnere, einen neuen oder auch neumodischen Begriff eingeführt. Weißt Du, was ich meine und welcher Begriff das ist? „Toleranz“ war ein Bestandteil dieses Wortes … glaube ich.
Exterieur
Spontane Reaktion: Ja natürlich geht das zusammen! Bei „konturlos“ musste ich sofort an Amöben denken, die so wenig feste Außenstruktur haben, dass sie praktisch jede beliebige Form annehmen können. Und doch ist eine Amöbe eine Amöbe. Bei Montaignes Fetzen stelle ich mir ähnliches vor: das Nichtfestgelegte, das Bewegliche, das Variable statt eines festgefügten Charakters. Das heißt ja nicht, dass man einfach zu nichts zerfließt.
Das fügt sich „alles“ so wunderbar. Oben habe ich von meiner inzwischen dauerhaften Neigung zu den „Bildern“ geschrieben und zwar, bevor ich Deinen Brief zuende gelesen hatte. Und nun kommst Du mir mit Bildern entgegen!
Jetzt allerdings sehe ich zur Frage der Konturlosigkeit und der bunten Fetzen sofort Bilder des Impressionismus vor meinem inneren Auge. Sie sind nicht scharf konturiert, betrachtet man sie ganz aus der Nähe, verschwimmen alle erkennbaren Formen zu winzigen Farbkleksen. Von etwas ferner gesehen sieht man bunte, farbige Flächen, die Gegenständliches hervortreten lassen. Es ist tatsächlich beides vorhanden.
Um nach so viel Introspektion mal wieder etwas Distanz hineinzubringen, möchte ich nach langer Zeit mal wieder in die Welt der Malerei wechseln. Und zwar zu Anton van Dyck. Ich bin fasziniert von seinen Porträts, lange ohne zu wissen, weshalb. Seine Bilder sehen auf den ersten Blick so konventionell aus, es gibt Hunderte ähnlicher Porträts aus der Epoche. Aber während ich sonst in Museen die Säle mit den Porträts meist eher langweilig finde, ist es mir immer wieder passiert, dass ich vor einem Bild dann doch stehengeblieben bin und dann gesehen habe: Ah, ein van Dyck! Es muss etwas Besonderes in ihnen liegen, was mich in seinen Bann zieht.
Und als ich eben nach einigen Beispielen suchte, um sie hier zu zeigen, wusste ich plötzlich den Grund: Es ist seine Fähigkeit, sowohl das Strenge, das Einengende der ausladenden weißen Kragen, der Rüstungen etc. darzustellen, als auch die sehr lebendigen Menschen, die darin stecken. Ich finde seine Bilder (oder die Dargestellten?) keineswegs konventionell. Vielleicht passt es sogar zum Thema von Form und Formlosigkeit. Nun waren die Dargestellten gewiss nicht formlos, vermutlich eher im Gegenteil. Aber ich finde, sie strahlen auf eine ungemein subtile Weise sehr viel Freiheit innerhalb ihrer jeweiligen Formen aus.
Zuerst habe ich mich über die Halskrausen informiert. Ob sie praktische Zwecke erfüllten, weiß ich nicht. Jedenfalls sind sie am königlichen Hof und in Adelskreisen von Spanien im 16. Jahrhundert Mode gewesen. Man hat sie nach nicht langer Zeit in etwas abgeflachtere Krausen abgewandelt- und in dieser Form sind sie in den Niederlanden z.B. innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auch noch lange modern gewesen. Abgeschafft wurden sie wegen ihrer Unbequemlichkeit und Einengung – die so hervorstechend ist.
Desweiteren lese ich, dass van Dyck 42 Jahre alt geworden ist, und es scheint mir fast unmöglich, wie er innerhalb dieser kurzen Zeit eine derartige Fülle von Bildern hat malen können. Selbst, wenn man davon ausgeht, er habe Malergehilfen gehabt, ist die Arbeitsleistung ganz unfassbar.
Entschieden habe ich mich, nicht ein einzelnes Bild herauszugreifen, exemplarisch sozusagen, sondern ich habe mir tatsächlich alle Porträts angesehen, die bei wikepedia abgebildet sind. Mit „konventionell“ dürftest Du das Posieren der Personen meinen, nehme ich an. Sie werden zurechtgesetzt oder zurechtgestellt, um sich malen zu lassen, in feiner Kleidung. Es sind niemals Momentaufnahmen, während die Menschen mit irgendeiner anderen Tätigkeit beschäftigt sind. Allerdings kenne ich mich auch zu wenig aus. Man nennt ein Gemälde, auf dem ein arbeitender Mensch zu sehen ist, wahrscheinlich auch nicht Porträt.
Mir sind die Arm- und Handhaltungen der Menschen als erstes aufgefallen. Die Arme sind lose angewinkelt, und die Finger sind immer gespreizt. Verglichen habe ich mit meinen Händen und Fingern –und ich finde, diese Spreizung, die van Dyck malt, ist nicht natürlich, sondern ebenfalls gestellt. Bis hierhin kommen mir die Menschen, die in der oft überladenen Kleidung stecken, nicht so lebendig vor. ABER, die Gesichter, ich finde, dass es die Gesichter sind, die tatsächlich wie die Gesichter von Individuen aussehen. Einzigartig jedes einzelne –und ganz besonders die Augen! Ja, aber im Laufe der Woche, je mehr und näher die Bilder betrachtet habe, sind es nicht nur die Augen, sondern auch der Mund, die ganze Mundpartei einschließlich des Kinns, die die Gesichter so individuell aussehen lassen. Ich glaube, ich habe mir noch nie derart genau die Gesichtszüge von Menschen angesehen. Das ist sogar übergesprungen auf mein Ansehen der Menschen, denen ich auf der Straße oder andernorts begegne :-).
Da das Porträtgenre mir nur spärlich bekannt ist –im Unterschied zu Dir-, interessiert mich, ob Du ein einziges Beispiel für den konventionellen Stil nennen kannst, bei dem Du Dich langweilst …?
F.
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