Brief 203 | Konturlos und/oder bunte Fetzen?

Liebe B.,

Hm … damit setze ich allerdings voraus, dass überhaupt etwas existiert, insofern hast du vielleicht recht, dass diese beiden „alles“ nicht identisch sind. Wobei ich mich jetzt frage, wie man sich ein völlig unspezifiertes Alles vorstellen soll ... Hegel kommt mir in den Sinn, mit seinem Umschlag des reinen Seins ins reine Nichts. Ein Sein ohne die geringste Eigenschaft ist Nichts.

Ich denke auch, dass wir es dabei belassen können, denn den Unterschied unserer Ansätze hast Du kurz und griffig erfasst: Du setzt voraus, dass etwas existiert. Damit beschließen wir –vorläufig oder auch endgültig- das Thema „Kontingenz“ :-). 

 

Bleibendes … das nicht geblieben ist

Im ersten Moment war ich ganz verwundert, dass du etwas als normal bezeichnest, was mir als so bemerkenswert vorkam. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie meine „Rückkehr in die Welt“ stattdessen hätte aussehen können. Mein „altes Ich“ wäre vermutlich nicht weit hinausgegangen, sondern hätte sich sehr schnell in vielen „man könnte …“ verfangen, ohne allzu viel davon in die Tat umzusetzen. Es wäre wahrscheinlich auf eine Reihe von Online-Aktivitäten hinausgelaufen. Das wäre dann keine Grenzverschiebung gewesen, sondern nur eine Verstärkung des Bekannten, und wäre in einen schleichenden Rückzug von der Welt gemündet. Interessant wäre zu wissen, ob ich mich damit wohlgefühlt hätte, was nicht ausgeschlossen ist, denn das hätte ja sehr meinem Naturell entsprochen. Es hätte meinem Sozialverhalten während meiner Ehe geähnelt – immer mal wieder wäre der Gedanke aufgetaucht, dass es ja doch ganz schön wäre, wenn man ein, zwei Leute näher kennen würde; aber wenn solche „Anfälle“ vorbei sind, bleibt alles beim Alten, weil der Drang hinaus zu den Anderen dann doch nicht stark genug bzw. das Alleinsein auf Dauer befriedigender ist.

Sehr schön, dass Du das Gegenbild von dem, wie Du Dich tatsächlich entwickelt hast, noch einmal zur Verdeutlichung entwirfst, denn jetzt verstehe ich besser, was Du meintest. Und ich frage mich, ob es –Dein Gegenbild- nicht das ist, wie ich mein Leben fortgeführt habe? Eigentlich bin ich die geblieben, die ich war? Ich muß es konkreter machen, um für mich eine Antwort zu finden.

Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, habe ich Dir erzählt, dass ich mich –alleine lebend- ein bisschen wie ein ausgesetztes Kind empfinde. Und das ist, heute, nach inzwischen fast genau 10 Jahren, so geblieben. Es ist ein Bild, das ganz wesentlich mein Gefühl, in der Welt zu sein, bestimmt. Da ich als dieses Kind nicht überleben könnte, und da ich natürlich nicht nur dieses Kind, sondern auch ein erwachsener Mensch bin, verlasse ich die Wiese, den Ort, an dem ich mich alleine sehe  –und gleichzeitig bleibe ich das Kind. Egal, wo ich mich aufhalte. Geändert hat sich, dass für meine Zeit „draußen“ die erwachsene Frau öfter dominiert, aber kehre ich in meine Wohnung zurück, dann ist das Verlassenheitsgefühl prägend.  

Das jetzt so deutlich zu sehen, gefällt mir. Nicht in genau diesem, sondern in anderen Bildern oder anders ausgedrückt, sind meine Gedanken in letzter Zeit häufig gegangen. Ich akzeptiere mich so. Dieses Kind zu sein bedeutet, mich einsam zu fühlen, abhängig zu sein, anfällig zu sein für Freundlichkeiten anderer Menschen. aber ich muß das nicht mehr beheben wollen. Ich warte, bis jemand kommt, der mir beisteht. Der mich von der Wiese holt oder mit mir zusammen auf der Wiese spielt. Ich lebe als dieses Kind.            

Der Anfang dieses ganzen Prozesses allerdings, das darf man dabei nicht vergessen, war eine glückliche Fügung des Schicksals, indem ich gleich bei meinem ersten „Schritt hinaus“ auf dieses Projekt mit den geistig Beeinträchtigten gestoßen bin, das mich so nachhaltig beeinflusst hat. Dass ich überhaupt zur Freiwilligenagentur gegangen bin, kann ich mir noch selbst anrechnen, aber dass ich dort auf TimeSlips gestoßen bin, war reiner Zufall.

Ja, das Kontigente. Mir fällt dazu ein, dass ich ein halbes Jahr nach dem Tod meines Mannes zu meiner ersten Unterrichtstätigkeit gekommen bin, auch eher durch Zufall. Eine Begegnung mit der Bitte, ich könne ja mal vorbeikommen und mir die Sache ansehen. Aber da tritt noch etwas hinzu. Ist es die Eigendynamik, von der Du sprichst? Du hattest doch nicht nach einer Betreuungsstelle für geistig Beeinträchtigte gesucht? Ich nicht nach einer Unterrichtstätigkeit. Man geht hin, ohne zu wissen, was genau man sucht –und stellt fest, dass man ungefähr das gesucht hat, was man –und nun passt das Wort- gefunden hat. Im Finden erst merkt man, was man gesucht hat. Vielleicht braucht es eben doch noch einen kleinen Rest weiterer Eigeninitiatve, beim Überspringen von Hürden der Unsicherheit und Ängstlichkeiten, aber insgesamt ist es ein kontigent glücklicher Zu-Fall.    

 

Ge- oder/und Ungebundenheit

Der zweite Teil meines Briefes ist unordentlich. Trotz mehrfacher Versuche, ihn thematisch zu gliedern, überschneiden und wiederholen sich die Themen.  

Nach Freunden zu suchen ist mir, glaube ich, überhaupt nicht in den Sinn gekommen, obwohl ich ja auch praktisch niemanden näher kannte (außer Familie, was natürlich ein Unterschied ist zwischen uns beiden). Erstens hatte ich nicht das Bedürfnis; zweitens finde ich es unglaublich schwierig aktiv Freundschaften aufzubauen, ja selbst Bekanntschaften (ich glaube, das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht gelungen, das hat sich, wenn überhaupt, immer (selten genug) irgendwie ergeben); aber vor allem wollte ich ja drittens gerade wissen, wie ich allein bin, nicht in einer wie auch immer gearteten Beziehung. Mich hat gerade die (mehr oder weniger) komplette Ungebundenheit gereizt, ich habe sie als wirkliche Chance empfunden, die mir da in den Schoß gefallen war, wenn auch unter Umständen, die ich mir nie gewünscht hätte. Ich wusste, dass das nicht lange anhalten würde, ich lebe ja nicht auf einer einsamen Insel, früher oder später ergeben sich ja doch wieder Verflechtungen, und seien es nur die eigenen Gefühlsverstrickungen. Um so intensiver habe ich diese erste, losgelöste Phase empfunden. Was natürlich nur möglich war, weil ich wie du auch nicht komplett in meinem „Schneckenhäuschen“ geblieben bin, das ist also immer ein Wechselspiel.

Ganz zu Beginn habe ich auch keine Freunde gesucht, auch nicht daran gedacht, es tun zu wollen. Ich wollte und musste mich ja erst in winzigen Schritten „draußen“ ausprobieren. Im zweiten Jahr bin ich in einen Abgrund gestürzt, ganz sicher verstärkt durch meine Erkrankung, die mir Angst gemacht hat. Und da wurde das Defizit bedrohlich, denn ich hatte niemanden, keinen einzigen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen wollen. Also nichts, was man eine „nährende“ Beziehung nennt, gab es. Vielleicht war es auch mehr die Unkenntnis, wie ich für meine Probleme andere Menschen in Anspruch nehmen kann. Ja, ich glaube, das war es, denn ich kannte mich nur in einer Beziehungsform aus, in der mit meinem Mann. Ich flüchtete zu meiner Mutter. Den Satz markiere ich, weil er mir wichtig scheint –und geradezu wie eine neue Erkenntnis. In dem Wunsch, von ihr gehalten und gestärkt zu werden. Es war nun so wie es war, aber da ich von ihr Stärkung und Gehaltenwerden nie bekommen hatte, warum hätte sie es zum Ende ihres Lebens hin geben können?!

Ja, das Kennenlernen von Freunden und Bekannten unterscheidet sich nicht wesentlich von der Suche nach einem Liebespartner. Deine unübertrefflich gute Anleitung dafür „man muß Gelegenheiten schaffen“, d.h. man muß auf irgendeine Art und Weise sichtbar sein (was auch im Internet sein kann). Letzteres ist nur noch schwieriger, weil noch mehr an Zufälligkeit hinzukommt (die Liebe), aber vertraute Freundschaftsbeziehungen ergeben sich auch aus meiner Sicht.

Aufgrund meiner Erfahrung würde ich allerdings einer Anleitung, die lautet, „man müsse Gelegenheit geben“ bevorzugen, weil mir die Bereitschaft für eine Öffnung gegenüber anderen Menschen das entscheidende Moment zu sein scheint. Etwas präziser noch, dass ich darauf achte, für Entwicklungen offen zu sein und das heißt, nicht sofort bei der ersten Schwierigkeit mich wieder wegzuwenden, sondern eine Begegnung in der Schwebe lassen zu können.

Nochmals auszugsweise:

Mich hat gerade die (mehr oder weniger) komplette Ungebundenheit gereizt, ich habe sie als wirkliche Chance empfunden, die mir da in den Schoß gefallen war, wenn auch unter Umständen, die ich mir nie gewünscht hätte. Ich wusste, dass das nicht lange anhalten würde, ich lebe ja nicht auf einer einsamen Insel, früher oder später ergeben sich ja doch wieder Verflechtungen, und seien es nur die eigenen Gefühlsverstrickungen. Um so intensiver habe ich diese erste, losgelöste Phase empfunden.

Die Ungebundenheit, die Du häufiger erwähnt hast, habe ich als authentisch empfunden. Das heißt, ich habe sie nie als Rationalisierung wahrgenommen oder als irgendwie aufgesetzt, falsch. Ich denke, dass einfach ein Grundbedürfnis an Sicherheit erfüllt sein muß, damit man die Ungebundenheit nicht als möglichen freien Fall vom Netz erfährt. Also als etwas Bedrohliches. Wie sich die Sicherheit näherhin darstellt, lasse ich offen. Zumindest nehme ich nicht an, dass sie notwendig mit äußeren Umständen zu tun hat.

Trotzdem weiß ich nicht, ob ich den oben zitierten Abschnitt wirklich verstanden habe. Ich glaube, eher nicht. Daher versuche ich zu interpretieren. Die erste losgelöste Phase meine ich zu verstehen. Es ist die Zeit gewesen, in der nur Lücke war. Der eine tragende Ast war weggebrochen, und die Bruchstelle blutete. Das bedeutet Unsicherheit und gleichzeitig Ungebundenheit, denn Sicherheit und Bindung gab es nur im Rahmen der familiären Beziehungen. Eigentlich wiederhole ich lediglich das, was Du oben geschrieben hast. Du hattest weiterhin im Entwurf der zweiten Möglichkeit, wie Du Dein Leben hättest gestalten können, gesagt, dass Du dann vermutlich die alte Person geblieben wärest, also die, die Dir vertraut war. Jetzt weiß ich, was mich irritiert. Es ist das Wort „Gefühlsverstrickung“. Wärest Du die Alte geblieben, hättest Dich also nach und nach im Rückzug, der Einsiedelei eingerichtet, dann wäre die Verflechtung, Verknotung in den eigenen Gefühlen aufgetaucht?

Ah, ich glaube, ich hab’s. Du grenzt die erste Phase der Ungebundenheit ab gegenüber den weiteren darauffolgenden Phasen, in denen es für Dich in der Hauptsache darum ging, Bindung und Freiheit in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Bindung durch sich selbst, d.h. die selbst gesetzten Grenzen (auch durch Gefühle und die Verstricktheit in sie), Bindung an andere Menschen und auf der anderen Seite die Loslösung aus den als „Fessel“ empfundenen Bindungen. So???          

Und immer wieder: Montaigne! :-)))

„Konturlos“ dachte ich neulich einmal. Ich kann keine Konturen bei mir sehen – gegenwärtig zumindest. Ja, und ich fand bemerkenswert, dass es mir nichts ausmachte. Ich hatte nicht den Eindruck, es würde mir was fehlen. Kann man sich „unkonturiert“ und „bunte Fetzen“ zusammendenken, oder schließt eines das Andere aus? 

F.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.