Liebe F.,
Was ist Alles?
Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, dass ich im Unterschied zu Dir keinen Geltungsbereich festgelegt habe oder anders, Du legst mit „Kausalität“, „Zukunft“ und „Handeln“ Bereiche der Notwendigkeit fest, so wie man einen Rahmen schafft. Wenn ich hingegen davon ausgehe, dass alles, was ist, auch nicht sein könnte, dann habe ich keinen Rahmen. Du hast einen Bereich wie im Schachspiel als Beispiel, von dem ausgegangen wird, der also notwendig schon existiert.
Ich glaube, ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Du meinst, dein „alles“ macht einen Unterschied zu meinen Beispielen? Aber ich hatte doch auch von „allem“ gesprochen – alles kann auch anders sein.
Hm … damit setze ich allerdings voraus, dass überhaupt etwas existiert, insofern hast du vielleicht recht, dass diese beiden „alles“ nicht identisch sind. Wobei ich mich jetzt frage, wie man sich ein völlig unspezifiertes Alles vorstellen soll ... Hegel kommt mir in den Sinn, mit seinem Umschlag des reinen Seins ins reine Nichts. Ein Sein ohne die geringste Eigenschaft ist Nichts.
Ich weiß aber nicht, ob das wirklich wichtig ist, denn …
Vom Ergebnis her, das stimmt, gelangen wir beide in den Raum der Möglichkeiten.
Grenzöffnungen
Ja, ich erinnere mich gut und spontan hatte ich schreiben wollen, dass dieser Vorgang der Grenzöffnung und Grenzverschiebung doch wahrscheinlich ganz normal ist. Dabei habe ich mich an die Formulierung erinnert, dass ein normal verlaufender Trauerprozeß ungefähr nach einem Jahr abgeschlossen ist (steht in allgemeiner Literatur übers Trauern), was auf der anderen Seite bedeutet, danach wieder Schritte „in die Welt“ zu tun.
Im ersten Moment war ich ganz verwundert, dass du etwas als normal bezeichnest, was mir als so bemerkenswert vorkam. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie meine „Rückkehr in die Welt“ stattdessen hätte aussehen können. Mein „altes Ich“ wäre vermutlich nicht weit hinausgegangen, sondern hätte sich sehr schnell in vielen „man könnte …“ verfangen, ohne allzu viel davon in die Tat umzusetzen. Es wäre wahrscheinlich auf eine Reihe von Online-Aktivitäten hinausgelaufen. Das wäre dann keine Grenzverschiebung gewesen, sondern nur eine Verstärkung des Bekannten, und wäre in einen schleichenden Rückzug von der Welt gemündet. Interessant wäre zu wissen, ob ich mich damit wohlgefühlt hätte, was nicht ausgeschlossen ist, denn das hätte ja sehr meinem Naturell entsprochen. Es hätte meinem Sozialverhalten während meiner Ehe geähnelt – immer mal wieder wäre der Gedanke aufgetaucht, dass es ja doch ganz schön wäre, wenn man ein, zwei Leute näher kennen würde; aber wenn solche „Anfälle“ vorbei sind, bleibt alles beim Alten, weil der Drang hinaus zu den Anderen dann doch nicht stark genug bzw. das Alleinsein auf Dauer befriedigender ist.
Dann bin ich zu mir rübergesprungen und mir ist ein Unterschied zwischen uns aufgefallen, der aus meiner Sicht wichtig ist. Die Lücke hat sich in dem Maße geschlossen, in dem Du Deine Grenzen verschoben hast, kann man das so sagen? Ich sehe einen stetig fließenden Prozeß, in dem eines das andere bedingt. Bei mir sehe ich sowas wie ein ruckartiges Vorangehen, Öffnung und Grenzverschiebung gegen innere Widerstände. Exemplarisch dafür finde ich, dass Du häufig von Deiner Neugierde gesprochen hast, das heißt der Lust am Ausprobieren Deiner Selbst in neuen Situationen. Ich habe meine Schritte meistens als mir aufgezwungene wahrgenommen, nicht gerne habe ich sie getan. Das ist keine Klage meinerseits, weil ich es ja war und bin, die sich selber im Wege stand und steht. An den äußeren Umständen hat es wenig(er) gelegen.
Ob das bei mir fließend gewesen ist, glaube ich gar nicht mal. Ich würde eher von Intervallen sprechen, also genügend Pausen zwischen den einzelnen Schritten, um mich an den neuen Zustand erst einmal zu gewöhnen, bevor ich den nächsten tue. Aber es stimmt schon, dass es bei mir nicht ruckartig abgelaufen ist, sondern mehr eines aus dem anderen erwachsen ist. Der entscheidende Unterschied zwischen uns beiden ist wohl eher die Sache mit der Freiwilligkeit. Ich habe nichts als aufgezwungen empfunden, im Gegenteil, ich habe fast alles freiwillig und absichtlich so gesucht. Manche meiner Aktivitäten haben dann allerdings eine Eigendynamik entwickelt, die mich (positiv) überrascht hat, was mich dann wiederum darin bestärkt hat, mich weiter zu öffnen.
Der Anfang dieses ganzen Prozesses allerdings, das darf man dabei nicht vergessen, war eine glückliche Fügung des Schicksals, indem ich gleich bei meinem ersten „Schritt hinaus“ auf dieses Projekt mit den geistig Beeinträchtigten gestoßen bin, das mich so nachhaltig beeinflusst hat. Dass ich überhaupt zur Freiwilligenagentur gegangen bin, kann ich mir noch selbst anrechnen, aber dass ich dort auf TimeSlips gestoßen bin, war reiner Zufall.
Wesenszüge
„Wesenszüge“? Für mich weiß ich es im Moment nicht. Mir fällt ein Satz ein, mit dem ich mich einmal charakterisiert habe: Ich lebe nicht leicht. Ist das eine „wahre Natur“, ein Wesenszug? Ich weiß es nicht. Er drückt für mich ein Existenzgefühl aus. Ich überlege, ob ich Deinen letzten Satz darin unterbringen kann. Nein, nicht wirklich. Die Glitzer bleiben punktuell. Ähnlich wie die „trigger“ überraschen sie zwar plötzlich und ohne, dass wir sie beeinflussen können, nur ziehen sie im Unterschied zum „trigger“ nicht ein ganzes Paket der schönen Erlebnisse in die Gegenwärtigkeit –und die Nachwirkungen sind nur kurz, das Schöne verläuft sich schneller. Ein bisschen „Negatives“ muß schon noch sein.
Ja gut, das ist bei mir genauso. Das Glitzern dauert meist nur einen kleinen Moment und ist dann auch schon wieder vergessen. Vielleicht gehe ich anschließend noch für eine Weile etwas beglückter durch die Welt. Aber meistens eher nicht.
„Wesenszüge“, „wahre Natur“ … ja, das sind so Worte … Du bringst es auf den Punkt:
Aber mir fällt ein anderer Aspekt zum Selbstbild ein. Wozu ist es überhaupt wichtig, die eigenen Eigenschaften, dominierende und weniger ausgeprägte, zu wissen und sich um sie zu kümmern? Ich denke, dass wir deswegen über sie nachdenken, weil es am Ende um unser Handeln geht. Das heißt, wir reflektieren sie weniger zur Identitätsfindung als vielmehr zur Gestaltung unseres Lebens. Deswegen ist diese Frage auch erst in so drängender Weise wichtig geworden, nachdem wir alleine in dieser Welt zurückgelassen worden sind. Denn danach ging und geht es um die zentrale Frage, in welcher Lebenswelt wir uns bewegen wollen.
Wobei ich hier die „Identitätsfindung“ doch nicht außer Acht lassen würde. Sie war für mich ja anfangs sogar vorherrschend: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr in einer Zweierkonstellation lebe, sondern allein? Wer bin ich, ganz für mich? Aber der Weg zu dieser Selbstfindung ging dann nicht so sehr über die reine Selbstreflexion, sondern überwiegend übers Handeln und Ausprobieren, verbunden mit einer hohen Aufmerksamkeit für Details. Also nicht die großen Schritte, sondern mehr die kleinen Veränderungen im Alltag.
Nach dem Tod meines Mannes hatte ich die Idee, das Bild von einer Frau, die in einem Kreis von mehr oder weniger guten Freunden lebt, von denen sie anerkannt und geschätzt wird. Meine ersten Schritte in Gruppen, da ich ja niemanden kannte, zeigten mir, dass und wie sehr ich mich unsicher, unbeholfen und unbeachtet fühle. Auf diese Weise bin ich mit mir selber damals überhaupt bekannt geworden. Das Bild in meiner Phantasie entsprach in keiner Weise meiner Wirklichkeit, also meiner Person in ihrer Realität. Ich erlebte mich anders. Eine Frau lernte ich kennen, mit der ich persönlich einen näheren Kontakt hatte und immerhin merkte, dass ich kommunizieren kann. Und gleichzeitig habe ich weiterhin meine Schwierigkeiten wahrgenommen und beobachtet. Aus meinem Schneckenhäuschen herauszukommen, jeweils nur für kurze Zeit, gelang mir immerhin. Im Schneckenhäuschen fühlte ich mich einerseits sicher und andererseits brauchte ich, um mich in ihm sicher zu fühlen, die Kontakte draußen.
Nach Freunden zu suchen ist mir, glaube ich, überhaupt nicht in den Sinn gekommen, obwohl ich ja auch praktisch niemanden näher kannte (außer Familie, was natürlich ein Unterschied ist zwischen uns beiden). Erstens hatte ich nicht das Bedürfnis; zweitens finde ich es unglaublich schwierig aktiv Freundschaften aufzubauen, ja selbst Bekanntschaften (ich glaube, das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht gelungen, das hat sich, wenn überhaupt, immer (selten genug) irgendwie ergeben); aber vor allem wollte ich ja drittens gerade wissen, wie ich allein bin, nicht in einer wie auch immer gearteten Beziehung. Mich hat gerade die (mehr oder weniger) komplette Ungebundenheit gereizt, ich habe sie als wirkliche Chance empfunden, die mir da in den Schoß gefallen war, wenn auch unter Umständen, die ich mir nie gewünscht hätte. Ich wusste, dass das nicht lange anhalten würde, ich lebe ja nicht auf einer einsamen Insel, früher oder später ergeben sich ja doch wieder Verflechtungen, und seien es nur die eigenen Gefühlsverstrickungen. Um so intensiver habe ich diese erste, losgelöste Phase empfunden. Was natürlich nur möglich war, weil ich wie du auch nicht komplett in meinem „Schneckenhäuschen“ geblieben bin, das ist also immer ein Wechselspiel.
Je länger ich in dieser Woche meine „Wesenszüge“ oder die „wahre Natur“ habe ausfindig machen wollen, desto vergeblicher ist es mir vorgekommen. Je nach Tagesstimmung haben die Wesenszüge gewechselt, vielleicht fehlt mir im Augenblick die Distanz zu mir, aber egal warum, es ist an dieser Stelle eine Lücke. Das stört mich auch gar nicht. Möglicherweise können oder könnten andere Menschen das besser beurteilen als ich.
Und immer wieder: Montaigne! :-)))
B.
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